Erlosung
Brikett in den Flammen. Funken sprühten auf die Steinkacheln des Sakristeibodens.
Von drauÃen drang ungeduldiges Hupen in die Sakristei.
Gott sei Dank, das Taxi ist noch da.
Ella beugte sich über Forell. »Nicht reden«, sagte sie. Sie griff nach seinem Hals, fühlte seinen Puls, suchte nach weiteren Wunden. Seine Lider flatterten, schlossen sich. »Nicht einschlafen«, sagte sie. »Bleiben Sie wach!« Sie versetzte ihm einen leichten Schlag ins Gesicht, und er öffnete die Augen wieder, starrte sie empört an. »So ist es gut, bleiben Sie wütend!« Sie schaute sich um. »Wer war das? Wer hat das getan?«
Er sagte etwas, das sie nicht verstand. Sie entdeckte ein Küchentuch an einem Haken neben der Spüle, aber das nützte ihr
nichts; es waren zu viele schwarze Löcher, zu viele Kugeln. Er hatte schon zu viel Blut verloren. Wieder ertönte das Hupen, lang gezogen, gereizt jetzt.
»Helfen â helfen Sie â «, flüsterte Forell.
»Sie müssen schnell in ein Krankenhaus, wo ist Ihr Telefon?«
»Nicht â nicht mir â Lazare â «
»Was ist mit Lazare?«
»Helfen. Zu Rémy ⦠Saint Michel â¦Â«
»Rémy Michel? Wer ist das?«
»Lazare ⦠Kloster ⦠Michel ⦠Rémy â¦Â«
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Ella leise. »Sie dürfen nicht reden. Sie haben zu viel Blut verloren. Ich rufe einen Krankenwagen, der Sie â «
»Zu spät â sterbe â sterbe schon. Der memory â memory stick â das Journal â nicht gefunden â «
»Wer?«
»Der Mann.« Er sah sie an, und jetzt wirkten seine Augen auf einmal klar und stolz. »Hat nichts gefunden â gut versteckt â in der Kapelle â in dem Buch â wie der Brief â Poe â «
DrauÃen röhrte ein Motor auf. Einen Moment lang dachte Ella schon, der Taxifahrer hätte nun doch die Geduld verloren, aber dann fiel Licht durch ein kleines Fenster auf der anderen Seite der Kapelle, und auch der Motorenlärm kam von dieser Seite, die sie nicht gesehen hatte. Sie sprang auf, lief zu dem kleinen Fenster und spähte durch den Schlitz im Vorhang. Sie sah gerade noch die Rückstrahler eines Wagens, die Räder drehten auf dem nassen Gras durch, ein Wagen, der schlingernd davonraste, ein grauer Audi.
Als sie sich wieder umdrehte, lag der Professor reglos auf dem Rücken, die Augen weit und starr. Sie bückte sich und tastete nach seinem Puls. Sie fühlte nichts als ihren Finger auf seiner Haut. Sie erhob sich wieder und sah automatisch auf die Uhr, als müsste sie Stunde und Minute seines Todes für seine
Patientenakte festhalten, Ende der Vitalfunktionen, 00:24. Todesursache: Erkenntnisschock nach jahrelanger fehlerhafter Einschätzug der Realität (Patient fühlte sich noch in Sicherheit, als er bereits dem Tode geweiht war), beschleunigt durch panische Bewusstseinseintrübung und heftige Angstzustände.
Wieder drückte der Taxifahrer auf die Hupe, einmal und noch einmal.
Ella suchte den Lichtschalter neben der Tür zur Kapelle, dann öffnete sie die nur angelehnte Tür. Ein durchdringender Geruch nach verschüttetem Rotwein empfing sie. In dem Gewölbe dahinter erinnerten neben einem schlichten Altartisch nur noch ein Beichtstuhl aus Ebenholz, die Buntglasfenster und eine geschnitzte Statue des heiligen Georg, der mit einem Drachen kämpfte, an den ehemaligen Zweck des Raums. Den Altar hatte Forell zum Schreibtisch umfunktioniert, komplett mit Telefon, Computer und Designerlampe. Der Beichtstuhl beherbergte einen Fernsehapparat. Anstelle der Bänke gab es eine Schicht kostbarer Teppiche, darauf eine wuchtige, mit weiÃem Leder bezogene Couchgarnitur und einen der Länge nach halbierten, dunkel gebeizten Baumstamm als Tisch, um den ein Dutzend Stühle stand.
Die Ledercouch war aufgeschlitzt worden, die Füllung herausgerissen. GroÃe Bücherregale verbargen die Steinwände. Die Bücher lagen zerfetzt auf dem Boden. Moderne Gemälde, die wohl an den Steinwänden gehangen hatten, waren heruntergenommen und zerschnitten worden. Ein Weinregal in der Ecke hinter dem Altar lag umgestürzt auf dem Steinboden, alle Flaschen schienen systematisch zerschmettert worden zu sein.
In den Nischen standen abstrakte Stahlskulpturen, um die herum eine raffinierte Punkstrahleranlage an mehreren, verschieden hoch
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