Erlosung
töten kann, wenn ich mich ihm anpasse.« Ein weiteres, resigniertes Lachen. »Franzose, wie gesagt. Es war schon spät, als er anrief, müssen Sie wissen, ungefähr so spät wie jetzt. Natürlich kann ich allein das Kartell nicht aufhalten, sagte er, dazu brauche ich Paris und Berlin, vielleicht sogar die ganze Welt. Aber ich muss es versuchen.«
Ella fragte: »Wollen Sie behaupten, er hat die ganzen Jahre eine der gröÃten Banken der Welt geleitet und nicht einmal geahnt, woher das Geld seiner Familie stammte?«
»Vielleicht hat er es geahnt, vielleicht sogar gewusst, aber bis zu diesem Moment vor einigen Wochen hat es ihn nicht â es gibt Begegnungen, die einen alles in einem neuen Licht sehen lassen â « Er fiel sich selbst ins Wort. »Da kommt noch ein Wagen â sind Sie das? Ein Wagen ohne Licht?« Er trank; sie konnte ihn schlucken hören, das Geräusch war lauter als die Orgelmusik. »Falls ich nicht mehr lebe, wenn Sie hier sind: Ich habe â «
»Reden Sie keinen Unsinn!«, fiel Ella ihm schroff ins Wort. »Ich bin jeden Moment da, und was Sie hören, ist wahrscheinlich nur der Wind oder jemand hat sich verfahren â «
» â ich habe alles aufgeschrieben und zusammen mit dem Memory Stick und dem Journal von Matthias Steinberg versteckt. «
»Sind Sie nie auf die Idee gekommen, dass Lazare vielleicht schon tot ist? Dass Sie die Aufnahmen längst publik machen sollten, und sei es nur, um unser aller Leben zu retten?«
»Das wäre gegen den Willen von Raymond. Er hat ausdrücklich gesagt, ich würde dann eine Nachricht über seinen Tod erhalten. Sie müssen sich darum kümmern, ja, tun Sie das? Das Versteck ist â «
Die Leitung war tot. »Hallo?! Professor Forell? Ich höre sie nicht mehr â « Sie drückte die Rückruftaste. Nichts. Sie schüttelte das Handy wie ein Kind ein kaputtes Spielzeug. Nichts. Sie presste es wieder ans Ohr. Sie hielt den Atem an, weil sie dachte, ein Geräusch gehört zu haben, aber es war nur ein Knirschen unter den Reifen des Taxis. Sonst nichts. Der Akku war endgültig leer. »ScheiÃe!«
33
Die Scheinwerfer des Mercedes erfassten die halb zerfallene Steinmauer des Friedhofs und ein Eisenkreuz und dahinter die Kapelle auf dem Hügel am Ende des morastigen Feldwegs. Die Mauern der Kapelle wirkten frisch gewei-Ãelt, die Fenster waren durch dunkelrote Läden gesichert. Kein Lichtschein fiel aus dem Inneren, niemand zeigte sich in der Pforte oder hinter den Fensterläden. Die Schieferschindeln des Dachs schimmerten matt, als hätte es hier vor Kurzem noch geregnet. Auch das rostige Kreuz glänzte nass. WeiÃdorn wucherte über die grob behauenen Steine der Mauer, und zwei irisierende Punkte im Geäst einer Mooreiche entpuppten sich als die Augen eines grau gefiederten Käuzchens.
»Warten Sie hier«, sagte Ella zu dem Fahrer, der jetzt unruhig auf seiner Sitzdecke aus farbigen Holzperlen hin und her rutschte. »Ich bin gleich wieder da.«
Der Fahrer schaltete die Innenbeleuchtung ein. »Bitte, Sie erst bezahlen«, sagte er, der Blick seiner tiefbraunen Augen im Rückspiegel kaum weniger auf der Hut als der des Käuzchens. »Vierundfünfzig Euro, bitte.«
Ella zog drei Zwanzig-Euro-Scheine aus dem Kuvert und reichte sie nach vorn. »Der Rest ist für Sie. Würden Sie jetzt bitte warten, egal, wie lange es dauert?«
Sie hielt das Kuvert so, dass er den Inhalt sehen konnte, das einzige Lockmittel, über das sie verfügte. »Gut, aber machen Sie schnell, bitte.« Ella steckte Kuvert und Handy ein und stieÃ
den Schlag auf. Der Geruch von nassem Gras und feuchter Erde drang in den Wagen; die Nachtluft war herbstlich kalt. Vorsichtig stieg sie aus und ging im Licht der Scheinwerfer den Feldweg hinauf bis zu dem kleinen Friedhof und weiter zur Kapelle.
Nirgendwo eine Spur von einem Wagen.
Als der Taxifahrer den Motor ausschaltete, hörte sie plötzlich die Musik. Sie blieb stehen und lauschte. Orgelklänge drangen aus der Kapelle, dieselbe Fuge von Bach wie vorhin am Telefon. Ella ging weiter zur Tür und drückte die Klinke. Die Tür lieà sich nicht öffnen. Ella suchte eine Klingel, fand jedoch keine. Sie klopfte. Nichts geschah.
Mit raschen Schritten ging sie an der Mauer der Kapelle entlang zum Fenster des kleinen Sakristeianbaus. Die Läden waren zugezogen
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