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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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und von innen verriegelt. Sie versuchte, durch eine Ritze zu spähen, sah aber nur einen kleinen Teil des Raumes dahinter im Widerschein des Feuers, das im offenen Ofen prasselte: das Kreuz an der Wand, einen Schrank mit einem altmodischen Plattenspieler, eine Ecke des Tisches, ein Glas Wein und eine rote Schulter, vorgebeugt, vielleicht über einem Buch.
    Â»Professor Forell!«, rief Ella.
    Die Schulter bewegte sich nicht, blieb reglos. Die Orgelfuge schwoll zu immer schnellerer Virtuosität an. Ella klopfte gegen den Fensterladen, ohne dass Forell von seiner Lektüre aufschaute. Sie ging weiter zum nächsten Fenster, suchte auch dort nach einem Spalt. Sie fand ein Astloch, durch das sie aber nur die Tür zur Kapelle sehen konnte. »Professor Forell!«, rief sie wieder, lauter diesmal. Die rote Schulter bewegte sich noch immer nicht.
    Ella schob die Finger unter die Läden, versuchte sie aufzuziehen. Der Riegel gab nicht nach; die Scharniere hielten. Es hatte keinen Sinn, noch einmal zu rufen. Die Musik überlagerte jedes andere Geräusch. Ella war sicher, dass die Schulter, die sie sah, Forell gehörte. Er saß am Tisch, über einem Buch oder einer
Zeitung, einer historischen Abhandlung. Er war allein und hörte Bach; niemand bedrohte ihn.
    Sie hämmerte mit der Faust gegen die Fensterläden. »Professor Forell!«, rief sie in die dröhnende Orgel vom Plattenspieler hinein, wütend, dass sie die Fahrt umsonst gemacht hatte.
    Die rote Schulter blieb reglos.
    Ella spürte, wie etwa Eisiges von ihr Besitz ergriff, tiefer in sie eindrang als die Nachtkälte. Ein Windstoß fuhr in die Zweige der Mooreiche über ihr. Das Laub raschelte, und im nächsten Moment endete das Orgelstück.
    Sie ging wieder zur Vordertür und drückte noch einmal die Eisenklinke. Sie warf sich gegen die Füllung, die plötzlich nachgab. Sie trat über die Schwelle in den dunklen Gang dahinter. Ein Geruch nach Asche und brennendem Feuerholz empfing sie. Am anderen Ende des kurzen Gangs fiel schwacher Lichtschein durch den Spalt der angelehnten Sakristeitür. Jetzt, wo die Orgel nicht mehr spielte, konnte Ella das leise Prasseln im Ofen hören.
    Â»Professor Forell?«, rief sie. »Ella Bach – ich bin da!«
    Sie ging weiter, öffnete die Tür zur Sakristei. Er saß auf der Eckbank am Küchentisch. Sein Kopf war noch weiter nach vorn gesunken, auf einen der Arme, den, der ausgestreckt auf dem Tisch lag. Er trug jetzt ein rotes Hemd mit weißen Streifen, ungleichmäßig breit; die Fliege war verrutscht. Er schien zu schlafen. Die Weinflasche, die sie von draußen nicht gesehen hatte, war fast leer. Das einzige Licht im Raum kam von dem flackernden Feuer, sodass Ella sein Gesicht nicht genau erkennen konnte, nur die seltsame Neigung des Kopfes.
    Sie blieb auf der Schwelle stehen. »Professor?«
    Eins der eigenartig gekrümmten Beine unter dem Tisch veränderte seine Stellung. Forell hob den Kopf. Schwerfällig, mühsam stemmte er sich hoch, bis er fast aufrecht stand. Sein Schatten schien sich von ihm zu entfernen. »Ich«, keuchte er, »ich … muss … Sie müssen … Doktor … Doktor Bach …«

    Er lebt, er ist nicht tot. Er ist nur betrunken.
    Sie sah, dass die Bank dort, wo er gesessen hatte, ebenfalls rot war, aber sie ignorierte es. Leicht schwankend, stand er neben dem Tisch. Er stützte sich mit einer Hand ab und starrte sie an, oder genauer, er versuchte es, denn irgendwie schien sein Blick keinen Halt zu finden, er glitt immer wieder ab und irrte ins Nichts. Seine Lippen verzerrten sich, als wollten sie lächeln, ohne sich wirklich daran erinnern zu können, wie man ein Lächeln zustande brachte. Endlich fanden seine Augen ihr Gesicht. Ein Blutschwall brach aus seinem Mund, floss über das Kinn und troff auf seine Hemdbrust, wo ein weiterer weißer Streifen verschwand.
    Er stirbt ja doch ; er verblutet.
    Forell verblutete an den kleinen, schwarz versengten Löchern im Hemd, die sie erst für Knöpfe gehalten hatte. Schleppend trat er einen Schritt auf sie zu. »Doktor … helfen … helfen Sie …«, flüsterte er. »Ich … ich habe … habe gewartet …« Er streckte eine Hand nach ihr aus, ließ sie aber gleich wieder sinken. Er tat noch einen Schritt, dann gaben seine Beine nach, und er stürzte, bevor Ella ihn auffangen konnte.
    Knackend barst ein

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