Erlosung
Leben. Genau das möchten wir von Ihnen, dass Sie ein Leben retten. In diesem Fall sogar eins, das Sie schon einmal gerettet haben! Laetitia. «
Ella spürte, wie eine Hand ihren rechten Oberarm umschloss und ihr aufhalf. »Viens «, sagte die farbige Frau. Sie führte Ella vom Fenster weg in den nächsten Raum. Das Licht veränderte sich, wurde heller, ein anderer Geruch drang durch die Tütenschlitze. Ella wurde mehrmals um die eigene Achse gedreht und anschlieÃend in einen dritten Raum geführt. Dieser Raum war wieder dunkel. Mit einer schwungvollen Geste zog die farbige Frau Ella die Tüte vom Kopf.
Sie brauchte einige Sekunden, um etwas erkennen zu können. Sie war in einer kleinen Kammer ohne Fenster, an der Decke eine lose baumelnde Glühbirne, die nicht brannte. Die Kammer war leer bis auf eine Matratze von gleicher Machart wie die, auf der sie gelegen hatte. Auf der Matratze kauerte eine junge Frau. Sie war barfuà und trug dunkelblaue Jeans und einen burgunderroten Strickpullover. Die Hände lagen wie kleine verkrüppelte Klauen in ihrem SchoÃ. Ihre Haare waren strähnig,
achtlos hinter die Ohren geschoben, und das Gesicht verschwand hinter Mullbandagen, einer weiÃen Nasenprothese und einem Drahtgestell vor dem Mund, das auch die Zähne zu schützen schien. Die Wangen waren geschwollen und verfärbt, die in den Höhlen verrutschten Augen blutunterlaufen. Schmutzige Bandagen, die offenbar länger nicht gewechselt worden waren, führten vom Nacken am Hals entlang unter den Pullover, zu den Brüsten.
Bei Ellas Anblick begann die Frau am ganzen Körper zu zittern, als hätte sie plötzlich Angst. Ihre FüÃe zuckten, und sie bewegte die Hände, und jetzt, als sie die zitternden Hände genauer ansah, erkannte Ella auch die Frau, und sie begriff, dass es keine Angst war, sondern Freude: Mado Schneider freute sich, sie wiederzusehen.
38
Sie befand sich wieder in dem Raum, in dem sie aufgewacht war, und sie hatte auch wieder die Plastiktüte über dem Kopf und hockte auf der flachen Matratze, als der Anwalt fragte: »Wo ist es?«
Ella sagte: »Ich habe es nicht mehr.«
»Das wissen wir. Wo ist es?«
Ella antwortete nicht.
»Hat Ihre Freundin es? Frau Jansen?«
»Nein.«
»Sie hat es also. Was ist darauf?«
»Ich weià es nicht«, sagte Ella. AuÃer der Stimme des Mannes hörte sie in sich auch noch die von Mado â Mado, die lebt, die gar nicht tot ist â, die in der kleinen Kammer kauerte und gesagt hatte: »Bitte â bitte, helfen Sie mir!« In diesem völlig unpassenden Augenblick verspürte sie noch einmal den Rausch jenes Morgens, als sie in der Feuerwache erwacht war und geglaubt hatte, wieder ein Leben gerettet zu haben, als Siegerin aus dem aussichtslosen Kampf gegen den Tod hervorgegangen zu sein.
Der Anwalt sagte: »Wir wissen inzwischen, was es ist und wie es von Paris nach Berlin gelangt ist. Wir wussten es nicht, als wir jemanden zu Mademoiselle Schneider geschickt haben und wie sich herausstellte, wusste sie es selbst auch nicht. Aber jetzt wissen wir, dass es ein Memory Stick ist und dass Mademoiselle Schneider ihn an Professor Forell weitergegeben hat, von dem
er zweifellos vor seinem Tod in Ihre Hände gelangt ist. Nach wie vor unklar ist uns aber, was sich auf diesem Memory Stick befindet â was für eine Ton- oder Bildaufnahme. Das wusste nicht einmal Mademoiselle Marceau, die uns als Quelle sehr nützliche Dienste geleistet hat. Oder Professeur Barrault, von dem Sie bestimmt auch schon gehört haben â¦Â«
»Ich habe Durst. Geben Sie mir ein Glas Wasser, bitte.«
»Wenn wir fertig sind.« Der Anwalt zündete sich eine neue Zigarette an. »Wir haben natürlich eine Vorstellung von dem Inhalt des Sticks, und Professor Barrault hat uns bestätigt, dass diese Vorstellung aller Wahrscheinlichkeit nach zutrifft, aber das macht es umso notwendiger, dass wir mit Raymond Lazare persönlich darüber sprechen können, und zwar schnell, denn viel Zeit bleibt uns leider nicht mehr. Deswegen brauchen wir jemanden, der uns hilft.«
»Ich höre Ihnen nicht mehr zu, wenn ich nichts zu trinken bekomme«, sagte Ella.
»Sie werden mir zuhören«, sagte der Anwalt, »und wenn Sie mir bestätigen, dass Sie alles verstanden haben, bekommen Sie, was immer Sie wollen.«
»Warum sollte ich Ihnen helfen?«, fragte
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