Erlosung
Ella. »Für mich war Madeleine Schneider schon tot. Ich hatte ihr Leben gerettet und sie in die Klinik gebracht, aber Sie haben sie von dort entführen lassen und die Nachricht verbreitet, ich hätte Sie ermordet. Jetzt erfahre ich, dass sie noch lebt, aber das hat nichts mehr mit mir zu tun.«
»Es hat sehr viel mit Ihnen zu tun«, sagte der Anwalt, »denn wenn Sie uns nicht helfen, wird sie zum zweiten Mal sterben, und nur Gott bringt es fertig, jemanden erst zu retten, um ihn dann doch denselben Tod noch einmal sterben zu lassen, aber nicht Sie! Ich habe Sie studiert, Sie bringen das nicht fertig. Vielleicht hilft es Ihnen, wenn ich Ihnen erkläre, wie kompliziert unsere Situation damals war. Unsere Mandanten kamen
zu uns, weil sie darauf vertrauten, dass wir ihnen schnell helfen. Einer aus ihrem Kreis hatte sich gegen sie gewandt und drohte sie alle in den Abgrund zu stürzen. Unsere Mandanten wollten, dass wir herausfinden, warum er sich so verhielt. Was geschehen war. Und sie wollten, dass wir ihn entweder davon überzeugen, in ihren Kreis zurückzukehren oder MaÃnahmen ergreifen, um ihn unschädlich zu machen. Wir standen und stehen unter groÃem Zeitdruck, schon vom ersten Tag an.«
Ella hatte Angst, das Bewusstsein zu verlieren, wenn sie nicht bald etwas zu trinken bekam. Ihr Atem hörte sich hechelnd an, das dünne Plastik flatterte vor ihren trockenen Lippen.
»Wir fanden heraus«, sagte der Anwalt, »dass Monsieur Lazare wenige Tage vor seinem Verschwinden Besuch von Mademoiselle Schneider erhalten hatte und dass dieser Besuch ihn in einem Ausmaà verwirrt haben musste, das uns bei einem Mann wie ihm â wir kannten ihn ja als langjährigen Mandaten â unvorstellbar erschien. Allerdings wussten wir zu dem Zeitpunkt natürlich nicht, was diese Verwirrung ausgelöst haben mochte und auch nicht, dass er schon länger Zweifel an dem Plan hegte, den er doch ursprünglich mit den sechs anderen zusammen entwickelt hatte. Genauso wenig wussten wir von der Geschichte seiner Familie und dem Ursprung ihres Reichtums oder dass sein Neffe Rémy Lazare ihm seit Jahren deswegen zusetzte und von ihm verlangte, den Namen der Familie reinzuwaschen.«
Der Anwalt hielt inne, als wüsste er nicht, wie viel er ihr erzählen durfte, redete dann jedoch schnell weiter, bevor sie ihn wieder unterbrach. »In dem aufgewühlten Zustand, in den ihn Madeleine Schneiders Besuch versetzt hatte, traf Raymond Lazare jedenfalls eine folgenschwere Entscheidung. Er entschied, die unerwartete Begegnung als ein Zeichen dafür zu betrachten, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen wäre, das Blut von seinen Händen zu waschen, sozusagen. Allerdings ahnte er wohl, dass er sich damit selbst zur Persona non grata machte und gab
Mademoiselle Schneider daher â wie wir heute wissen â einen Memory Stick mit, in einer Flasche Rotwein versteckt. Offenbar ist sie mit dem Zug gefahren, beim Durchleuchten in der Flughafenabfertigung hätte man so was wohl bemerkt. Gott bewahre uns vor den Geistesblitzen und der Vertrauensseligkeit alter Männer. Wie auch immer, wir vermuten, dass der Stick eine Bild- oder Tonaufnahme von einem Zusammentreffen des Konsortiums enthält, einen Mitschnitt eines oder mehrerer Gespräche über die Absichten der Teilnehmer.«
Ella hörte, wie seine Stimme schwächer wurde; sie konnte ihn kaum noch verstehen.
»Jedenfalls«, fuhr er fort, während sich die Tüte immer weiter vor ihrem Gesicht blähte und zusammenzog, an ihren Nasenlöchern klebte, die Lippen verschloss, »ohne Mademoiselle Schneider zu sagen, wozu er sie benutzte, hatte er bereits beschlossen, unterzutauchen, bis der geeignete Moment gekommen war, mit dem, was er wusste, an die Ãffentlichkeit zu treten und das Konsortium so mit höchster Wahrscheinlichkeit ins Gefängnis zu bringen. Was ist denn? Was haben Sie?«
Ella antwortete nicht; ihr war schwindlig, sie kippte zur Seite und blieb zusammengekrümmt auf der Matratze liegen.
Der Anwalt seufzte gereizt. Er sagte etwas auf Französisch, woraufhin die Frau, die er Laetitia nannte, sich mit leisem Quietschen auf ihren Gummisohlen entfernte. Etwas später kehrte sie zurück, hob die Plastiktüte ein paar Zentimeter weit an und setzte Ella ein Glas an die Lippen. Lauwarmes Wasser. Ella trank gierig, hustete, das Wasser lief ihr über das Kinn, aber sie trank weiter, bis die
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