Erlosung
sterben.
Ella hatte fieberhaft hin und her überlegt, ob es einen Ausweg gab; eine Möglichkeit, die Pläne des Konsortiums zu durchkreuzen, ohne Mado in Gefahr zu bringen. Ob ein Weg existierte, Lazare zu warnen und herauszufinden, warum seinetwegen so viele Menschen umgebracht worden waren, ohne dass es Mados Leben erneut gefährdete. Aber jedes Mal war die Antwort dieselbe gewesen: Nein, dann wird Mado sterben.
Auf der anderen Seite des Parkplatzes rollte langsam ein Wagen rückwärts über die Ausfahrt auf das Tankstellengelände. Dort wendete er und fuhr an den wenigen geparkten Fahrzeugen vorbei, bis das Licht seiner Scheinwerfer den Citroën erfasste. Er bremste und blieb einen Moment so stehen, als wollte der Fahrer Ella genauer in Augenschein nehmen. Dann schlug er das Steuer scharf ein und bog auf das Parkfeld neben ihr. Er schaltete die Scheinwerfer aus. Kurz darauf wurde die Innenbeleuchtung angeknipst, und jetzt konnte Ella etwas sehen. Zuerst erkannte sie die Beifahrerin und danach den Fahrer.
Ihr Herz krampfte sich zusammen, als wäre es die ganze Zeit stillgestanden und würde gerade durch einen Stromstoà wieder zum Leben erweckt: Es tat einen Satz und den nächsten, und es fühlte sich wieder an wie Leben.
Annika. Und Dany.
Nein, das ist unmöglich.
Beide schauten im schwachen Licht der kleinen Lampe über dem Armaturenbrett unverwandt zu ihr herüber, und die Frau
sah genauso aus wie Annika in ihrem schwarzen Rollkragenpullover, der schwarzen Lederjacke mit kreuz und quer angebrachten ReiÃverschlüssen und einer rot-schwarz karierten Schirmkappe. Ella konnte den Blick nicht von ihr lösen, und sie sah noch immer wie Annika aus. Das ist sie, das ist Anni! Ein kurzes, kleines Lächeln huschte über den flammend roten Mund der Frau.
Ella stieg aus und ging um den Citroên herum, und Annika stieg ebenfalls aus und sagte: »Dr. Livingston, nehme ich an?«
»Anni!« Im nächsten Augenblick hielt Ella sie in den Armen; sie fuhr ihr sogar mit der Hand über das Haar. »Wo kommt ihr denn her? Was macht ihr hier?«
Annika antwortete nicht, aber sie hatte Tränen in den Augen, und das sagte auch etwas.
Jetzt stieg Dany aus, groà und schlank und blond, und Ellas Herz schlug noch schneller, aber sie blieb stehen. »Hey, Dany«, sagte sie, ohne sich vom Fleck zu rühren.
»Hey«, antwortete er leise, fast verlegen, als hätte er ein schlechtes Gewissen.
Annika trat einen Schritt zurück und blickte zum erleuchteten Servicebereich der Tankstelle hinüber. »Ich geh mir mal die Hände waschen. Soll ich euch was mitbringen? Kaffee? Sandwich? «
Ella sah ihr Gesicht und begriff, dass irgendetwas nicht stimmte. Annika schlenderte an der WaschstraÃe mit den rot blinkenden Lampen vorbei, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ella drehte sich zu Dany um. »Was ist hier los?«, fragte sie. »Wie habt ihr mich gefunden?«
»Wir sind dir nachgefahren«, sagte Dany.
»Von wo?«
»Von Paris.«
»Von wo in Paris?«
»Von da, wo du gefangen gehalten worden bist, im Quartier de lâHorloge.«
Ella spürte, wie ihr Mund trocken wurde. »Woher weiÃt du, dass ich gefangen gehalten worden bin?«
»Das will ich dir ja gerade erklären.«
»Das letzte Mal haben wir uns in Berlin gesehen, weiÃt du noch? Du musst eine ganze Menge erklären.« Sie sah, wie er den Blick senkte, sogar bei der schlechten Beleuchtung des Parkplatzes sah sie es, und da wusste sie auf einmal alles, und er brauchte ihr nichts mehr zu erklären. »Ich weià nur nicht, ob ich es hören will«, sagte sie.
»Du musst es trotzdem wissen«, sagte Dany. »Es geht um dein Leben und um meins, aber mehr um deins. Deswegen bin ich hier.«
Ella schwieg, weil sie das Gefühl hatte, Reden könnte zu wehtun, fast so sehr wie Zuhören. Doch dann musste sie doch etwas sagen, und es sagte sich fast von selbst: »Es war alles eine einzige Lüge, oder?«
»Nicht alles«, sagte Dany.
Sie trat auf ihn zu, trat dicht an ihn heran, und weil er sie noch immer nicht ansah, versetzte sie ihm einen Stoà mit der Faust gegen die Brust, nicht sehr heftig, nur um irgendetwas zu tun, das auch ihm wehtat. »Was?«, fragte sie. »Was war nicht gelogen? Dass du Mados Bruder bist? Dass sie dich verzweifelt um Hilfe gebeten hat? Dass du Journalist bist, beim Nouvel Observateur? Dass du
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