Erlosung
du noch in Berlin, aber der, der ihn lanciert hat, wollte dich mit Paris in Verbindung bringen. Als Dany das hörte und dann auch noch, dass du dich mit Aziz bei der Chinesischen Botschaft triffst, lag die Sache für ihn irgendwie auch auf der Hand. Er hat ein bisschen herumtelefoniert, und danach wusste er genau, wo du warst und was passiert war. Frag mich nicht, wie er das so schnell herausgekriegt hat.«
Ella hatte nicht gefragt. Sie hatte gesehen, wie das Lächeln auf Annis Lippen erstarrt war. Und du bist meinetwegen tatsächlich in ein Flugzeug gestiegen, hatte sie gedacht.
Jetzt blickte Annika wie hypnotisiert auf die schwarze Fahrbahn vor dem Citroên und sah zu, wie die Scheinwerferkegel die Dunkelheit vor sich herschoben. »Ist es noch weit?«, fragte sie.
»Eine Stunde vielleicht«, sagte Ella. Sie erinnerte sich daran, wie Dany sie angesehen hatte, bevor er in den Seat gestiegen und losgefahren war, ausdruckslos, kein Anflug irgendeines Gefühls mehr, nur ein Blick, der alles bedeuten konnte oder nichts. Wie sein letzter Blick aus dem anfahrenden S-Bahnzug auf der Jannowitzbrücke.
»Und?« Annika entdeckte ein kleines Fädchen an ihrer Bluse
und zupfte daran, um es zu entfernen. »Wen rettest du jetzt gerade â Mado Schneider, dich oder die ganze Welt?«
Ella schaute auf die Uhr im Armaturenbrett. Der Himmel über den Bäumen wurde allmählich heller, und die Anzahl der Wagen hinter und vor ihnen nahm zu. »Du fängst doch jetzt nicht etwa an, mich zu analysieren?«
Annika schien das Stäubchen nicht zu fassen zu kriegen. »WeiÃt du, was ich meinen Patienten immer sage? Ich analysiere nicht, ich therapiere nicht, ich bewache sie nur. Ich bin ihr Wachtposten an der Grenze.«
»An welcher Grenze?«, fragte Ella.
»Der, auf der die meisten von ihnen gerade gehen, wenn sie zu mir kommen â der schmalen Grenze zwischen zwei existenziellen Kräften: dem Chaos und dem Menschen. Ich bin ihr Wachtposten, ich stehe auf ihrer Seite der Grenze, bei ihnen, damit sie nicht aus Versehen hinüberrutschen.«
»Und hast du Angst, ich könnte ins Chaos rutschen?«
Annika wandte sich einem anderen Fädchen oder Stäubchen auf ihrer Bluse zu. »Das weià ich nicht. Deswegen frage ich, wen oder was rettest du gerade?«
»Die Reste von meinem Leben«, sagte Ella, »die nackte Haut, so wieâs im Moment aussieht. Sehr viel ist mir ja leider nicht geblieben.«
»Wovon?«
»Von dem, was ich mir mal gewünscht habe oder sogar von dem, was ich hatte. Max fehlt mir. Ich hätte nie gedacht, dass es so sein könnte, so traurig.«
»Ist es wirklich Max, der dir fehlt? Oder das, was du nicht getan hast in der Zeit, die du mit ihm hattest?«
»Beides wahrscheinlich.« Ella sah ihn vor sich, wie er ihr eine Haarsträhne aus der Stirn strich; wie er neben ihr im Bett lag; wie er sie beim Frühstück ansah, so verliebt, so gut gelaunt; wie er mit ihr um das Leben eines Patienten kämpfte. »Manchmal
kommt es mir vor, als hätte ich alles falsch gemacht. Ich wollte mal heiraten. Ich wollte mit einem liebevollen Mann ein halbes Dutzend Kinder kriegen oder wenigstens für jemanden alles sein, was er sich wünscht. Und auf einmal habe ich gar nichts und kann mich nicht einmal mehr falsch entscheiden, weil irgendwie alles falsch ist.«
»Na, wenigstens bist du gesund«, sagte Annika. Noch immer zupfte sie an dem unsichtbaren Fädchen auf ihrer Bluse herum. »Diese ganze Geschichte ist anstrengender, als ich gedacht habe, und die Anfälle kommen jetzt in kürzeren Abständen, trotz meiner ganzen Tropfen und Pillen.« Sie hielt kurz inne, als überlegte sie, ob sie Ella wirklich damit belasten sollte. »Als Epileptikerin lebst du, als müsstest du jeden Tag aufs Neue durch eine Landschaft ohne festen Boden gehen. Du kannst jederzeit den Halt verlieren, einbrechen, und diese ständige Erwartung ist es, die dich fast umbringt. Schon der nächste Schritt kann dir wieder das Fundament unter den FüÃen wegreiÃen. Es gibt nichts mehr, worauf du dich verlassen kannst, keine Sicherheit, und jedem, der mit dir zu tun hat, geht es genauso.«
Sie kniff die Augen zusammen, als versuchte sie, ihr eigenes Leben schärfer zu sehen. »Schwimmengehen? Zu gefährlich, man kann ja plötzlich einen Anfall kriegen und ertrinken. Allein in der Badewanne? Dasselbe.
Weitere Kostenlose Bücher