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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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Reiten? Auf eine Leiter steigen? Gar nicht dran zu denken, man fällt runter und bricht sich das Genick. Autofahren? Du meine Güte, viel zu gefährlich, man verliert die Kontrolle über das Fahrzeug und verursacht einen tödlichen Unfall. Essen? Immer das Risiko, sich zu verschlucken und zu ersticken. Liebe, Hass, Sex? Bloß keine starken Gefühle! Im einen Moment wirkst du fast normal und fühlst dich auch so, im nächsten Moment verdrehen sich deine Augen, du fängst an zu zucken und zu schmatzen, gibst komische Geräusche von dir, als wärst du von einem Dämon besessen, der dich
dann durch die Luft schleudert, du fällst und fällst und dabei zerbeißt du dir die Zunge und pisst dich voll.«
    Zwischen den Kronen der Apfelbäume neben ihnen fiel ein erster kupferroter Sonnenstrahl in den Wagen.
    Annika sagte: »Manchmal lebst du stunden-, tage- oder sogar wochenlang in einem Dämmerzustand und sehnst dich danach, dass endlich der Anfall kommt, der dich erlöst und den Schleier um dich zerreißt, die Käseglocke mit einem Blitz zersprengt. Oder du wirst auf einmal total geil auf jemanden, der überhaupt nicht will, dass du ihm an die Wäsche gehst. Oder du verknallst dich in den heiligen Sebastian, weil du in der Ohnmacht nach dem Anfall irgendeine religiöse Euphorie erlebt hast. Oder du wirst rasend, aggressiv – du musst dich unglaublich beherrschen, weil nämlich nur ein winziges Fünkchen reicht, und du springst jemandem mit dem nackten Arsch ins Gesicht oder ziehst ihm eine Flasche über den Schädel.«
    Hinter einer Kurve öffnete sich eine Parkbucht mit einer Bank und einem Toilettenhäuschen, und Ella fuhr langsamer und verließ die Straße. Sie lenkte den Citroën unter einen Baum und stellte den Motor ab. Sie wusste nicht, ob Annika gerade auf einen Anfall zusteuerte, aber sie wollte vorbereitet sein. Ich kann sie nicht mit auf die Insel nehmen, dachte sie; es ist zu gefährlich, für uns beide. Sie ließ die Hände auf dem Lenkrad und sah Anni an, und Anni sah sie ebenfalls an, und ihre Augen wirkten wie heißes, frisch geblasenes Glas.
    Â»Es sind die Nächte, weißt du«, sagte Annika. »Die, in denen man nicht mehr wie früher sanft in den Schlaf hineingleiten will, sondern sich im Bett aufbäumt. Man fühlt sich, als hätte man Scherben gegessen, und wenn man in sich hineinschaut, sieht man sie da unten glitzern, scharf und gefährlich und so wirklich, dass man einen Straßenkehrer runterschlucken möchte, damit der da drinnen alles auffegt. Und dann kommt die Angst – eine Angst, die so groß ist, dass du denkst, sie zerreißt
dir die Brust und dein Schädel platzt, weil du diesen Druck auf dein Gehirn einfach nicht mehr aushalten kannst. Aber dann, irgendwann in den frühen Morgenstunden, bist du endlich müde genug, um dich nicht mehr gegen den Schlaf zu wehren, und kurz bevor du dann einschläfst, hast du auf der Zunge einen Geschmack wie von Asche. Genau das ist der Geschmack, wie man sich den von Asche vorstellt. Oder verbranntes Gummi. Oder Nagellackentferner.«
    Das war der Moment, in dem die Sonne ganz aufging und das Blau des Himmels plötzlich fast wehtat, wenn man hineinsah. Annikas Augen tränten jedenfalls. »Weißt du, irgendwie bin ich – ich bin nicht mehr dieselbe. Die Anni von früher. Manchmal – manchmal glaube ich, ich halte das nicht durch.«
    Ella griff nach ihrer Hand, hielt sie fest. »Doch, tust du.«
    Â»Ach, ja?!« Einen Moment lang schienen Annikas Augen zu glitzern vor Wut. »Woher weißt du das denn?« Sie starrte Ella an wie eine Fremde, dann legte sich das Glitzern, und die Augen färbten sich wieder hell. »Natürlich, du hast recht, ich schaffe das schon, Stephen Hawking würde mich wahrscheinlich sogar beneiden! Ich bin bloß manchmal so wütend! Ich sehne mich zurück nach der Möglichkeit, sanft zu sein.«
    Â»Du warst nie sanft«, sagte Ella. Sie berührte Annikas Hand mit ihrer eigenen und schaute ihr in die Augen, bis sie alle Stacheln eingezogen hatte. »Hör zu, du warst nie sanft, und ich möchte nicht, dass du darunter leidest, es nicht mehr zu sein, wenn du es nie warst.« Sie konnte Annikas trockenen Atem spüren, die Hitze, die noch immer von ihr ausging, und sie strich ihr über das zerzauste Haar, das aussah, als wäre ein Windstoß hineingefahren. Sie

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