Erlosung
abholst, falls deine Mörder dich am Leben lassen.«
42
Der Mont Saint-Michel ragte plötzlich über dem Horizont auf, und erst war er noch klein, aber mit jedem Kilometer bis zur Bucht wurde er gröÃer, und bald war er so nah, dass seine Silhouette das Einzige blieb, was Ella noch wahrnahm. Sie fuhr an den StraÃenrand und stieg aus. In der Luft hing der salzige Geruch von Algen und brackigem Wasser. Silbermöwen sichelten im Sturzflug über den Damm zur Insel, und sie kreisten auch über dem Kloster und um den Turm der Abteikirche ganz oben auf dem Felsen. Das kupferne Schwert des Erzengels auf der Kirchturmspitze glomm im Licht der tief stehenden Sonne. Unterhalb der Mauern, Steinbögen und Arkaden des Klosters duckten sich die schmalen Häuser des Dorfes gegen den steil abfallenden Granit. Rings um die Insel erstreckte sich Schlick bis zum Horizont. Die Schatten schnell treibender Wolkenfetzen glitten über das Watt, und hier und dort blitzten Wassertümpel in der nass glänzenden Ebene. Wind bewegte das Schilf und die Heidekrautbüschel am Ufer.
Nach ein paar Minuten stieg Ella wieder in den Citroën und fuhr hinter einem aluminiumverkleideten Pilgerbus mit der Aufschrift Sacred Tours über den Damm zur Insel. Aus dem Inneren des Luxus Class Scania Irizar schallte Gesang, der bis zu ihr in den Wagen drang. Sie parkte dicht neben dem Bus am Fuà der Festungsmauer. Unwillkürlich hielt sie nach ihren Ãberwachern Ausschau. Deinen Mördern . Sie konnte sie nicht sehen, aber sie spürte ihre Nähe.
Du musst sie sehen, bevor sie dich sehen. Du musst wissen, mit wem du es zu tun hast. Du musst auf alles vorbereitet sein, auch darauf, dass sie den Plan ändern. Wenn du nicht weiÃt, wer sie sind und ob du ihnen entkommen kannst, bist du das Kaninchen, und sie sind die Habichte am Himmel.
Die Pilger sammelten sich auf dem Parkplatz am Fuà der schroff aufragenden Felsen. Sie sangen immer noch. Ein junger Mann ganz vorn trug an einer Ebenholzstange ein Banner mit einem fein gestickten Bild von Sankt Michael und einem feuerspeienden Drachen, der sich unter seinem Fuà wand. Singend marschierten sie auf das Tor in der Festungsmauer zu, und Ella stieg aus und schloss sich ihnen an, nur dass sie nicht sang.
Die Pilger drängten durch die Porte de lâAvancée in einen befestigten Hof auf der anderen Seite des Vorwerks. Ella hatte das Gefühl, zwischen den Scharen von Amerikanern und Japanern erdrückt zu werden. Das Licht fiel hier nicht mehr bis auf die Köpfe der Menschenmenge, die sich nun durch ein zweites Tor in den nächsten Hof schob. Vorbei an grünspanbefallenen Eisenkanonen aus dem Hundertjährigen Krieg folgten die Wallfahrer dem schräg geneigten Brokatbanner durch die Porte du Roi, und Ella ging mit.
Sie hielt den Kopf gesenkt; versuchte, mit den anderen zu verschmelzen. Aus dem Schatten des Königstors warf sie schnelle, unauffällige Blicke hinter sich. Sie suchte nach vertrauten Gesichtern, verdächtigen Bewegungen, einem kurzes Blitzen in den Pechnasen oder Fallgitterscharten des Mauerwerks, sogar dort. Sie können überall sein, vor dir oder hinter dir oder neben dir. Sie waren da , aber Ella wusste nicht, wer; jemand, den sie kannte oder jemand, den sie noch nie gesehen hatte.
Sie konzentrierte sich auf jeden, der ihr verdächtig erschien, bis ihr wieder einfiel, dass es die Unverdächtigen waren, die sie im Auge behalten musste. Der Fischer mit den Stulpenstiefeln,
der neben ihr ging. Die beiden spanischen Priester vor ihr. Der uniformierte Flic am Anfang der Grande Rue. Die Kerzenverkäuferin in dem gelben Kattunkleid hinter dem Tour du Roi. Der Souvenirhändler mit den bunten Devotionalien von Sankt Michael, den neonbunten T-Shirts, den Ansichtskarten und Alan Stilvell-CDs an dem Stand rechts vor der Maison dâArcade. Vielleicht sogar einer der mit Kameras behängten Japaner, schmale Augen über weiÃem Mundschutz. Jenseits des Tors schob sich die Menschenmenge Schulter an Schulter die steil ansteigende Grande Rue hinauf, die in engen Windungen zum Kloster führte, vorbei an den niedrigen Steinhäusern aus dem 16. Jahrhundert, den Crêpe-Restaurants, Bar Tabacs und Andenkengeschäften. Das Gedränge um Ella wurde dichter. Souvenirläden lockten mit Musik: Orgelklänge mischten sich mit Chorälen und Chansons. Aus den offenen Türen und Fenstern der Lokale zu beiden Seiten
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