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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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wollen dir Angst einjagen. Dir zeigen, dass sie da sind, dass du ihnen nicht entkommen kannst, selbst wenn du es wolltest. Sie machen dir klar, wie hilflos du bist, wie fest in ihrer Hand.
    Sie prallte gegen einen Rücken, wich einem Japaner mit geblähtem Mundschutz aus, lief weiter, achtete nicht auf die Schultern, die sie anrempelte, die undeutlichen Gesichter, die vorbeiflogen. An der nächsten Ecke blieb sie atemlos stehen und drehte sich um. Der Mann mit dem Hauttransplantat war
verschwunden. Trotzdem, sie hatte sich nicht geirrt: Auch wenn er in Berlin etwas anderes angehabt hatte, nicht diese klobigen schwarzen Halbschuhe, auch keine blaue Windjacke mit rotem Futter, nur eine ähnliche dunkelgraue Hose.
    Sie blieb vor einem Fachwerkhaus stehen, hinter dessen honigfarbenen Butzenfenstern Lachen und Gläserklirren erklangen. Ihr Puls raste. Auf der Zunge spürte sie einen bitteren Geschmack, und die Bluse unter ihrem Pullover klebte ihr am Rücken. Du musst aufpassen , dachte sie; du hast zu wenig geschlafen in letzter Zeit, zu wenig gegessen und getrunken. Vielleicht wirst du paranoid.
    Sie löste sich von der Fachwerkmauer, um sich zur Treppe vorzuarbeiten. In diesem Moment sah sie den zweiten Mann. Er stand einige Meter weiter, gleich bei der ersten Stufe. Er trug eine rot-grün karierte Schirmmütze, einen roten Quastenschal, einen sandfarbenen Dufflecoat mit winzigen Tannenzapfen aus Horn als Knöpfen und lehmbespritzte Jeans, als wäre er durch das Watt zur Insel gestiefelt. Er stand nur da, tat nichts, kümmerte sich um niemanden. Stand da und starrte Ella an. Von Zeit zu Zeit fasste er sich an sein linkes Ohr, wahrscheinlich um einen unsichtbaren Empfänger zurechtzurücken, während er in ein winziges Mikro am Ärmelaufschlag sprach, ohne die Lippen zu bewegen. Und wenn sie dir nicht nur Angst einjagen wollen? Wenn sie einen anderen Weg gefunden haben, an Lazare ranzukommen, und dich gar nicht mehr brauchen? Was bedeutet das? Was haben sie vor? Warum ruft Dany nicht an? Haben sie ihn geschnappt, als er Mado befreien wollte? Haben sie ihn auch gefoltert? Hat er ihnen alles gesagt? Du kannst nicht mehr klar denken. Nicht klar denken.
    Ihr Blick flog über die Köpfe der Passanten zum Kloster hinauf, zurück zur Straße, nach links, nach rechts. Gleich neben ihr befand sich der Eingang eines Hotels. Sie stieß die Tür auf und betrat die Brasserie im Erdgeschoss. Der Raum war klein,
und die unverputzten Steinwände und das gedämpfte Licht eines eisernen Kronleuchters ließen ihn noch kleiner erscheinen. In einem offenen Kamin brannte ein Holzkohlenfeuer. Der Geruch von Lammbraten, Thymian und gerösteten Zwiebeln hing in der Luft. Im ganzen Lokal war kein Platz mehr frei, weder an der Theke noch an den runden Holztischen, nicht einmal auf den Bänken unter den bleigefassten Butzenfenstern.
    Ella sah sich um. Sie musterte die Gäste, besonders die, die aussahen, als wären sie von hier – alte Männer mit wettergegerbten Gesichtern und hellen Augen, bärtige Jungen mit sehnigen Armen, Frauen ohne Schmuck, die Haare glanzlos von der salzigen Meerluft. Sie arbeitete sich zur Theke vor und bestellte einen Cidre, und als sie die kalte Flasche in der Hand hielt, merkte sie erst, wie durstig sie war. Sie setzte die Flasche an den Mund. Während sie trank, behielt sie in dem beschlagenen Spiegel neben dem Tresen den Eingang im Auge.
    Danach holte sie wieder ihr Handy heraus und rief noch einmal Frère Rémy an. »Ich werde verfolgt«, sagte sie, als er sich meldete. »Ich weiß nicht, ob ich es rechtzeitig zum Kloster schaffe.«
    Â»Wo sind Sie gerade?«
    Â»In einem Hotel an der Grande Rue. Ich weiß nicht, wie es heißt, aber es hat Sprossenfenster, eine dunkelrot gestrichene Tür und so einen verrosteten Laternenhalter neben dem Eingang. Ich bin im Schankraum.«
    Â»Bleiben Sie da. Ich bin gleich bei Ihnen.«
    Der Fischer mit den Stulpenstiefeln saß zwei Tische weiter mit dem Rücken zum Kamin. Plötzlich hob er den Kopf, als hätte er nur darauf gewartet, dass sie ihn ansah. Rasch sah sie weg, aber aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine Bewegung. Gleich darauf stand er lächelnd vor ihr und sagte etwas, das sie nicht verstand. Hinter ihm ging die Tür auf, und die Kerzenverkäuferin von der Straße betrat den Schankraum.

    Mit der großen Basttasche an einem Tragriemen über der linken

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