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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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der Gasse drang das Klirren von Geschirr, das Scheppern von Töpfen und das Zischen heißen Fetts. Es roch nach gebratenem Lamm mit Zwiebeln und Rosmarin, frischem Knoblauch, gebackenen Muscheln.
    Ella spürte die Blicke ihrer Verfolger jetzt ganz deutlich, im Rücken, auf ihrem Hinterkopf. Nicht umdrehen , dachte sie, aber sie konnte nicht anders, sie musste sie suchen. Die von der Sonne geröteten Gesichter der Menge waren erwartungsvoll, fast fröhlich. Die Leute sahen aus wie Bauern oder Schäfer oder Touristen, wie harmlose Tramper aus Rom oder Liverpool oder Tokio. Der Fischer in den Stulpenstiefeln und der blauen Öljacke rempelte Ella an. Sie zuckte zusammen, und er entschuldigte sich, und sie wusste, dass er nicht zu ihnen gehörte; sie konnte es an seinen Augen sehen.
    Vor ihr erklang ein helles Lachen. Ein kleines blondes Mädchen mit Sommersprossen, das auf den Schultern seines Vaters saß, hatte sich zu ihr umgedreht und schwenkte ein weißes Papierfähnchen mit einem roten Kreuz darauf. Der Vater blieb
bei der jungen Kerzenverkäuferin stehen. Das Mädchen starrte noch immer zu Ella herüber. Es hörte nicht auf zu lachen.
    Ellas Blick fiel auf ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe eines Andenkenladens. Mein Gott, du siehst aus wie eine Landstreicherin, dachte sie . Ihre dunkelblauen Jeans, das graue Jackett, der burgunderrote Pullover – alle Sachen, die Laetitia ihr noch vor der Abfahrt in Paris gebracht hatte, waren staubig, zerknittert. Die Menge schob sie weiter, an einer Aussichtsplattform vorbei. Draußen über dem Watt ging die Sonne unter, eine riesig rot glühende Scheibe wie aus frischer Lava mit einem flimmernden Hof, hinter der sich die Dunkelheit sammelte. Unter dem leuchtenden Streifen des letzten Lichts stieg das Wasser an und näherte sich schnell.
    Die Glocke der Klosterkirche oben auf dem Felsen rief mit hellen Schlägen zur Abendmesse. Möwen stoben auf, stiegen flatternd in den Himmel. Ihre metallischen Schreie klangen verloren, wie die verzweifelten Rufe toter Seelen im Fegefeuer. Plötzlich ging die Straßenbeleuchtung an. Die Glühbirnen, die an Ketten über den Gassen schwebten, ließen den Himmel unvermittelt tintenblau wirken. Die Mauern, Arkaden und Fenster der Abtei und sogar die Bäume und die schroffen Felsen darunter strahlten in einem unwirklichen, goldgelben Licht, das aus dem Stein selbst zu dringen schien. Die Stimmen der Menschen klangen lauter und hallten in den schmalen Durchgängen zwischen den Steinmauern.
    Du musst weg von den Leuten, dachte Ella; sie sind zu langsam. Sie schützen dich, aber sie sind zu langsam. Plötzlich kam ihr ein anderer Gedanke: Was ist, wenn sie die Jacke oder die Hose mit einem Chip versehen haben? Wenn sie dir jederzeit folgen können, ohne dir überhaupt nahe kommen zu müssen?
    Sie stolperte. Eine Hand griff nach ihrem Arm. Erschrocken riss sie sich los und drängte sich durch die Menge. Vor ihr trug ein Mann ein Netz mit großen, tropfnassen Wolfsbarschen über
die Straße in eine Seitengasse. Ihr Blick fiel auf die offen stehenden Fischmäuler, die starren Augen, und plötzlich sah sie alles wieder vor sich: das Blut überall in der dunklen Wohnung, das Blut und Mado und die zuckenden, zappelnden Fische, die auch starben.
    Â» Une chandelle? « Die junge Frau in dem gelben Kattunkleid stand neben Ella und lächelte verlegen. Sie strich sich eine Haarsträhne aus der linken Wange hinter das Ohr. »Une chandelle, Madame? «, fragte sie leise und griff in die große Basttasche vor ihrem Bauch.
    Â»Nein«, antwortete Ella, »non merci, Mademoiselle. « Sie ging schneller, fort von der Kerzenverkäuferin, den Fischern und den Pilgern mit der Brokatfahne. Sie hatte die Treppe zum Klostertor fast erreicht, als sie den Mann mit der Brandwunde entdeckte. Er stand vor einem Souvenirladen, zwischen zwei Drehständern mit Ansichtskarten. Er sah direkt zu ihr herüber. Das Licht einer Lampe an der Hausecke über seinem Kopf fiel auf seinen schwarzen Hut, dessen Krempe einen Schatten auf sein Gesicht warf und die Wunde verdeckte, aber Ella wusste, dass sie da war.
    Jetzt kam er auf sie zu, die Hände in den Taschen einer blauen Windjacke. Er teilte die Menge, als wäre sie gar nicht da. Ellas Herz setzte aus, nur einen Schlag oder zwei und doch lang genug, um ihr das Gefühl zu geben, dass es für immer stehenbliebe.
    Sie

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