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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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dem Nachthimmel schnitten. Sie versuchte das Fenster der Zelle zu erkennen, in der sie eben noch gewesen war, aber sie konnte es nicht mehr finden. Sie kauerte reglos in der Kälte, und nach und nach erschien ihr alles wie ein Traum, die Begegnung mit dem jungen Geistlichen, das Telefonat mit seinem Onkel und die Fahrt mit dem Schlauchboot durch die Dunkelheit, ohne Licht und mit leise gedrosseltem Außenbordmotor.
    Sie saß mit angezogenen Beinen da, weil ihre Füße eisig und nass waren. Sie hatte die Arme um die Beine geschlungen, die Hände ineinandergeschoben und den Kopf auf die Knie gelegt. Sie zitterte am ganzen Körper, als hätte sie Schüttelfrost. Sie dachte, wenn sie sich zusammenklappte wie ein Taschenmesser, wenn sie sich so klein wie möglich machte, fror sie vielleicht nicht so stark. Sie hörte den Wind im Strandhafer, und sie spürte ihn kalt am Nacken und unter ihrer Jacke.
    Ganz am Ende der Bucht ragte in einigen Kilometern Entfernung
ein viereckiger Leuchtturm auf, der in regelmäßigen Abständen weiße Blitze über das Meer und den Damm und die flachen Polder hinter ihr schickte. Das Leuchtfeuer erschien ihr jetzt tröstlicher als das Wunder aus Stein, das auf dem Felsenberg vor ihr aus dem Wasser wuchs.
    Vor fast zwei Stunden war sie über die Schlauchwand des Zodiacs gestiegen und durch das seichte Wasser an Land gewatet, und als sie sich noch einmal umgedreht hatte, konnte sie das Boot schon nicht mehr sehen, nur sein Kielwasser, das in einem großen Bogen durch die Bucht führte, schimmernd wie Glaswolle. Da hatte der Anblick der Insel ihr den Atem verschlagen, und einen Moment lang dachte sie, ja, Frère Rémy hat recht, es ist wirklich leicht , »Wir sehen Gott, indem wir seine Schöpfung sehen, und wir erblicken den Teufel, indem wir erleben, wie seine Diener sie zu zerstören versuchen.«
    Der Mönch hatte sie aus der Abtei durch den steil abfallenden Klostergarten auf der Nordseite der Insel hinunter geführt zu einem Streifen Brachland zwischen einer kleinen Kapelle und einem Brunnen. Mit flatternder Kutte und irrlichternder Taschenlampe war er flink wie eine Bergziege zwischen schroff aufragenden Granitbrocken und dichtem Dornengestrüpp vorangegangen zum Ufer, schweigend, ohne sie anzuschauen. Das Rauschen der Bäume am dunklen Hang war dem Zischen und Donnern der Brandung gewichen, und der geisternde Lichtstrahl der Taschenlampe in Frère Rémys Hand holte schwarzes Wasser und salpeterweißes Felsgestein aus der Finsternis. Dann hatte sich der runde Bug des Zodiac fast lautlos, aber heftig schwankend in den runden Flecken Helligkeit geschoben, gefolgt von den kräftigen Händen eines Fischers und einem bärtigen Gesicht, in dem die Augen gelblich glänzten.
    Â»Gott sei mit Ihnen, Doktor Bach«, war alles gewesen, was der Mönch noch zu ihr gesagt hatte, bevor er dem Fischer mit der Lampe winkte und sie den heftig rollenden Wellen überließ.
    An Land war sie dann in die Richtung gegangen, die der Fischer ihr gezeigt hatte. Kleine Krebse waren seitwärts aus dem Lichtkegel ihrer Taschenlampe geflohen, und aus dem hohen Gras und den Stranddisteln hatten fahle Augen ihr seelenlose Blicke zugeworfen. Mit nassen Schuhen und einer flackernden Taschenlampe in der klammen Hand war sie über das Marschland gestapft, und eine Zeit lang hatte ihr auch der Scheinwerferstrahl des Leuchtturms geholfen.
    Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis sie erkannte, dass sie sich verirrt hatte. Der Weg, von dem der Fischer gesprochen hatte, tauchte nicht auf, und vor ihr erstreckte sich nur farbloses, flaches Land ohne Orientierungspunkte. Einmal stieß sie an eine schwarze Hecke, der sie ein Stück weit folgte, bis sie merkte, dass sie sich zu weit vom Meer entfernte. Sie ging zurück, durch dasselbe eintönig graue Land und war wieder da, wo sie angefangen hatte. Kein Bauernhof, keine Scheune mit dem Renault Pritschenwagen, zu dem der Fischer ihr die Schlüssel gegeben hatte.
    Die Batterie der Taschenlampe war ständig schwächer geworden. Nach einer weiteren halben Stunde hatte sie schließlich aufgegeben und sich an die Strandböschung gekauert. Das Wasser war immer weiter zurückgewichen, und das nasse Watt glitzerte im Mondschein. Der Scheinwerferstrahl des Leuchtturms kreiste wie ein bleicher Finger über der Bucht. Sie merkte, dass sie müde wurde. Schließlich holte sie ihr Handy

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