Erlosung
war das Meer eine dünne silberne Linie. Ãber dem Horizont ballten sich schwarze Gewitterwolken, die nicht näher kamen. Davor hing das Morgenlicht wie ein blendender Gegenstand, weià und dicht.
Ella schob die Hände in die Jackentaschen und wandte sich nach links. Ihre Schritte raschelten im hohen Gras. Sie folgte der Hecke in die andere Richtung und stieà auf den Weg, von dem der Fischer gesprochen hatte. Zwischen zwei niedrigen Mauern aus unbehauenen Steinen führte er von dem Leuchtturm weg zu einer Ansammlung niedriger Häuser. In der Ferne konnte sie die Dächer sehen, graue Schindeln und Stroh, das in der Feuchtigkeit schwarz geworden war. Keine Männer, keine Frauen, nur wei-Ãe Möwen in der Luft und das Bellen eines einzelnen Hundes.
Ella marschierte mit gesenktem Kopf, denn das scharfe Seelicht blendete sie, obwohl die Sonne gerade erst aufging. Mechanisch setzte sie einen Fuà vor den anderen. Die Kälte versteinerte ihr Gesicht. Ihre Augen brannten. Dann entdeckte sie das Gehöft, das etwas abseits von den anderen Häusern stand, und es sah genauso aus, wie Frère Rémy es beschrieben hatte. Als sie nah genug war, konnte sie auch den ramponierten, burgunderfarbenen
Renault Pick-up in der offenen Scheune sehen. Sie holte den Schlüssel aus der Tasche und hielt dabei Ausschau nach den Leuten, die den Hof bewohnten. Als sie die Scheune erreicht hatte, rief sie: »Hallo? Hallo?!« Kein Fenster ging auf, keine Tür öffnete sich.
Sie stieg in den unverschlossenen Wagen, startete den Motor und fuhr den Renault aus der Scheune. Sie hupte zweimal. Als sich noch immer niemand zeigte, steuerte sie den Pick-up vom Hof und über den Feldweg zur StraÃe nach Pontorson. Sie drehte Heizung und Gebläse ganz auf. Im Handschuhfach fand sie eine halbe Tafel Schokolade mit Nüssen, die sie heiÃhungrig verschlang, ohne sie ganz auszupacken oder einmal aus der Hand zu legen.
Scheppernd schaukelte der Renault über den feuchten Feldweg. Das Lenkrad bockte in Ellas Händen, und der Wagen rutschte immer wieder in den ausgefahrenen Furchen hin und her. Angestrengt starrte sie durch die schmutzige Windschutzscheibe, in der sich das Sonnenlicht brach. Als sie die befestigte StraÃe erreichte, trat sie das Gaspedal durch. Im Rückspiegel konnte sie noch eine Zeit lang den Mont Saint-Michel und das goldene Schwert des heiligen Michael auf der Spitze der Abteikirche blitzen sehen, doch dann verschwand es in den heranziehenden Gewitterwolken.
Die Septembersonne wirkte zu schwach, um es bis in den Zenit zu schaffen. Im Gegenlicht stieÃen Möwen aus dem Himmel herab auf den Schlick. Der kalte Wind rannte gegen den Wagen an, aber im Inneren spürte Ella jetzt nichts mehr davon. Sie blinzelte.
Sie holte ihr Handy heraus und wählte die Nummer, die Dany ihr gegeben hatte, bevor er nach Paris zurückgefahren war. Sie wollte nicht mit ihm reden. Sie hoffte, dass er eine Mailbox hatte, auf die sie sprechen konnte. Sie hörte seine Stimme, die nur seinen Namen sagte, sonst nichts. »Dany?« Ein
Pfeifton stach ihr ins Ohr. »Ella hier. Anni hat mir erzählt, dass du â ich wollte nur sagen, bitte, tu, was du kannst, um Mado zu finden â sie hat es verdient, zu leben â ich will nicht, dass die sie umbringen â oder mich â aber vor allem sie â « Mehr fiel ihr nicht ein, und mehr wollte sie auch nicht sagen. Sie unterbrach die Verbindung.
Sie fuhr einige Kilometer durch die flache Küstenlandschaft. Vom Meer trieb Nebel heran, der das Sonnenlicht aufsog. Wie feiner Goldstaub glühte er rings um den Wagen. Als sie die Häuser von Pontorson erreichte, änderte sich das Wetter wieder, und der Nebel löste sich auf, dafür kamen die schieferfarbenen Wolken näher. Sie schoben sich vor die Sonne, und ein paar Minuten später begann es zu regnen.
Der Regen wurde zu einem Wolkenbruch. Die Scheibenwischer des Renault kapitulierten vor den herabstürzenden Wassermassen, sodass Ella den Wagen kurz vor der Auberge Saint Michel an den StraÃenrand lenkte und anhielt, um zu warten, bis das Unwetter vorüber war. Das Fenster auf der Fahrerseite des Renault schloss nicht richtig. Wasser lief über die Scheibe und dann an der Tür herunter. Ein vorbeirauschender Pilgerbus pflügte Gischt gegen die Karosserie des Wagens. Nach fünf Minuten lieà das Unwetter nach, und die Scheibenwischer eroberten sich einen
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