Erlosung
Teil der Frontscheibe zurück. Mit dem Jackenärmel wischte Ella die beschlagene Innenseite über dem Lenkrad frei.
Annika stand auf der Treppe vor dem Hotel, gehüllt in den ersten blassen Sonnenstrahl nach dem Regen. Sie winkte. Ihr lächelnder Mund war rot wie frisch ausgespuckte Lava.
47
Es war 20:47, und Ella wusste, dass sie es nicht mehr rechtzeitig schaffen konnten. »Wir kommen zu spät«, sagte sie. »Wir verpassen ihn!« Sie steuerte den Pick-up von der ZubringerstraÃe auf den Besucherparkplatz und suchte eine Lücke zwischen den abgestellten Fahrzeugen.
Der Anruf war kurz nach 19 Uhr gekommen, und Ella hatte sich sofort gemeldet, denn sie saà bereits hinter dem Steuer, und das Handy lag griffbereit in ihrem SchoÃ. »St. Jacques Aeroport Rennes«, hatte Raymond Lazare gesagt, jetzt ohne jede mechanische Verzerrung. »Der Iberia-Flug aus Madrid um 20:45. Falls wir uns am Gate verfehlen, treffen wir uns beim Eingang zur Flughafenambulanz.«
»Wie erkenne ich Sie?«, hatte Ella sich erkundigt. »Sehen Sie noch so aus wie auf den Fotos?«
»Nein. Ich â « Lazare hatte einen Moment geschwiegen, als koste es ihn Ãberwindung, eine Beschreibung von sich zu geben. »Ich trage einen beigen Anzug, einen roten Schal, eine rote Baseballkappe und hellbraune Reeboks.«
»Ich komme nicht allein«, hatte Ella gesagt. »Ich habe eine Freundin bei mir.«
»Vertrauen Sie ihr?«
»Absolut.«
»Beschreiben Sie sie.«
Ella hatte Annika beschrieben, und dann war sie losgefahren, auf der Route Nationale 175 nach Rennes. Unterwegs hatten
sie noch einmal versucht, Dany anzurufen. »Was Neues, eine Frauenstimme«, hatte Annika erklärt, während sie zuhörte. »Jetzt kann man nicht mal mehr eine Nachricht hinterlassen. Vielleicht hat er aus irgendeinem Grund das Handy gewechselt. Mach dir keine Sorgen.«
»Ich mache mir aber Sorgen«, hatte Ella gesagt und gedacht, was mache ich, wenn er nicht anruft oder wenn er Mado nicht rechtzeitig findet? Was mache ich dann?
Eine knappe Stunde Fahrzeit später standen sie im Stau. Kurz vor der Abfahrt zum Flugplatz hatte es auf dem Ring einen Unfall gegeben, und die StraÃe war in beide Richtungen gesperrt, Schlangen wartender Fahrzeuge, Polizei, Feuerwehr, Notarzt, die reine Poesie! Annika hatte neben ihr gesessen, blass und angespannt. Einige Minuten lang hatten sie auf die Männer gestarrt, die sich in dem Geflacker blauer und roter Blitze um die Unfallopfer zu kümmern schienen. »Vielleicht ist das gar kein Unfall«, hatte sie gesagt.
»Was soll es denn sonst sein?«
»Eine StraÃensperre. Du wirst doch gesucht, oder nicht? Und bestimmt haben die ihre Leute auch bei der französischen Polizei.«
Paranoia, hatte Ella gedacht, und sie dachte es noch immer, als sie den Renault jetzt in eine Parklücke manövrierte. Trotzdem hatte sie das Steuer scharf eingeschlagen und Gas gegeben, um von der Fahrbahn die Böschung hinunterzuholpern. Dann hatte sie den Renault mit Vollgas über die Wiese neben der StraÃe gesteuert, bloà dass sie noch immer spät dran war, denn jetzt zeigte die Uhr am Armaturenbrett 20:51. Sie sprangen aus dem Fahrerhaus und rannten auf die hell erleuchteten Betonflügel des Flughafengebäudes zu.
Vor dem Ausgang der groÃzügig verglasten Halle bestieg ein Pilgertrupp einen klimatisierten Ãberlandbus mit der Aufschrift Sacred Tours , der bei laufendem Motor wartete, um sie nach
Mont-Saint-Michel zu bringen. Es waren fast ausschlieÃlich Amerikaner und ein paar Japaner â erschöpfte Männer und Frauen in ausgebeulten Jeans, mit Golfhüten, Windjacken, karierten Hemden oder Sweatshirts. Einige trugen Baseballkappen mit der Aufschrift Saint-Michael . Fast jeder hatte einen Fotoapparat oder eine Videokamera umgehängt. Ein paar stützten sich auf Gehstöcke oder Krücken, aber alle schleppten Rucksäcke, Sporttaschen oder mit Dutzenden von Aufklebern verzierte Plastikkoffer zum Kofferraum des Busses. Ein junger Reiseführer stand mit einem zusammengerollten Banner neben der Tür und half den älteren Pilgern in den Bus.
»Pardon!« Ella drängte sich durch den Pulk zur Eingangstür, zog Annika hinter sich her. Sie stürzte in die Halle, und ihr Blick flog hoch zur elektronischen Tafel oben an der Wand hinter dem Eingang. Der Iberia-Flug aus Madrid war für 21:05
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