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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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heraus und drückte die Kurzwahltaste für Annikas Nummer. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis eine verschlafene Stimme sagte: »Ella?«
    Â»Ja. Habe ich dich geweckt?«
    Â»Wo bist du?«
    Â»Irgendwo in der Gnade Gottes.«
    Â»Was heißt das denn?«
    Â»Ich war auf Mont Saint-Michel, aber ein Fischer hat mich
mit einem Schlauchboot an Land gebracht, und jetzt bin ich hier am Ufer und warte darauf, dass es hell wird.«
    Â»Hast du mit Lazare gesprochen?«
    Â»Ja.«
    Â»Was hat er gesagt?«
    Â»Das erzähle ich dir, wenn ich dich abhole. Was ist mit Mado? Hast du etwas von Dany gehört?«
    Â»Er hat vor ein paar Stunden angerufen, weil Mado nicht mehr in der Wohnung war. Sie haben sie woandershin gebracht, und er wusste nicht, wohin. Niemand von seinen Kontakten spricht mehr mit ihm.«
    Â»Aber er sucht doch weiter?«, fragte Ella.
    Â»Ja, er fürchtet nur, dass sie vielleicht nicht mehr lebt und dass du die Nächste sein könntest.«
    Ella wurde elend zumute, und Annika merkte es und fragte schnell: »Wann kommst du?«
    Â»Frère Rémy hat mir die Schlüssel zum Wagen eines Freundes gegeben«, sagte Ella, »aber ich muss warten, bis ich was sehen kann. Ich habe mich verirrt und sitze gerade mit kalten Füßen am Strand. Immerhin mit Blick auf Mont Saint-Michel bei Nacht.«
    Â»Muss toll aussehen. An der Wand gegenüber von meinem Bett hängt ein Poster davon.« Ein Rascheln erklang, offenbar setzte Anni sich auf und knipste die Nachttischlampe an. »Denkst du, dass sie den Citroën beobachten?«
    Â»Und ob. Außerdem könnten sie uns damit überall orten.«
    Â»Sie werden mit allen Mitteln versuchen, uns zu finden, nicht?«
    Â»Und ob.«
    Â»Hast du Angst?«
    Â»Dazu bin ich zu kaputt.«
    Annika schwieg eine Sekunde. »Ich habe Angst«, gestand sie.
    Â»Uns wird nichts passieren.«

    Â»Woher weißt du das?«
    Â»Gott ist auf unserer Seite«, sagte Ella ausdruckslos.
    Annika sagte nichts, aber es hörte sich an, als schlucke sie.
    Â»Ist auf deinem Poster auch ein Leuchtturm?«, fragte Ella.
    Â»Nein. Nur die Insel.«
    Â»Mit Leuchtturm ist es doppelt so schön.«
    Einen Moment lang sagten beide nichts, und Ella hörte nur Annikas leises Atmen und das Flüstern des Wassers, das sich über das Watt zurückzog, und ein paar Sekunden lang war ihr nicht mehr kalt.
    Dann sagte Annika: »Ich muss weiterschlafen. Gute Nacht, Leuchtturm.«
    Â»Gute Nacht, Insel.«
    Ella steckte das Handy ein. Sie dachte noch, dass sie wer weiß was darum gäbe, jetzt auch in einem warmen Bett zu liegen, als sie eine Stufe hinunterfiel, wo gar keine war. Sie fing sich mit einem Ruck, der fast schmerzhaft war, aber dann fiel sie wieder, und diesmal fing sie sich nicht. Sie träumte, sie läge zusammengekauert unter einer Düne am Strand, zitternd vor Kälte, und als sie aufwachte, zitterte sie immer noch, bloß dass sie auf der anderen Seite lag als im Traum, und es wurde gerade hell. Zwischen Disteln und Strandflieder glänzten im Watt silberne Tümpel, zurückgelassen von der Flut. Der Damm zur Insel lag leer im ersten Licht unter einem knochenweißen Himmel, und nach und nach erloschen die Scheinwerfer, die den Bauwerken auf dem Mont Saint-Michel ihren goldenen Glanz verliehen hatten.
    Ella stand auf. Ihre Glieder waren starr, und eine Zeit lang fühlte sie ihre Füße und Hände nicht. Die nassen Kleider klebten an der Haut. In ihrer rechten Hosentasche spürte sie einen kalten Druck: die Schlüssel für den Renault. Zwei Kilometer die Küste hinauf , dachte sie; das schaffst du noch. Jetzt, bei Licht, konnte sie ihre eigenen Spuren im Sand sehen und stellte fest,
dass sie nachts erst ein Stück weit den richtigen Weg eingeschlagen hatte, bevor sie der Hecke in die falsche Richtung gefolgt war.
    Sie ging los. Ein Graureiher, der sie im Strandhafer stehend beobachtet hatte, stieg mit einem lang gezogenen Schrei auf und flog über das Watt davon. Sie kletterte die sanft ansteigende Böschung hinauf. Der Geruch nach Seetang und Salz war sehr stark. Unter ihren Schuhen knirschten kleine Muscheln. Oben angekommen, packte der kalte Wind sie so heftig, dass sie Schwierigkeiten hatte, zu atmen.
    Die Farben der Küste – rostiges Braun, mattes Grüngelb, stählernes Blau – hatten die letzten Schleier der Nacht abgeworfen. Weit draußen

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