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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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waren ihr unbekannt. Sie beschloss, sich nicht anzustellen; stattdessen drängte sie sich an den Schlangen der Wartenden vorbei. »Pardon, madame, pardon, monsieur.« Ohne jemanden anzusehen, den Blick immer zwischen die Köpfe gerichtet, erreichte sie die Spitze der Schlange und schob ihren Notfallkoffer hinter eine Aktentasche und einen Rucksack auf das Laufband.
    Langsam bewegte sie sich vowärts, und dabei hatte sie das Gefühl, dass sie genau das Falsche tat, dass es einen anderen Weg geben musste, der ihr nur nicht eingefallen war. Ihr Koffer
ruckelte auf die Scannerschleuse zu. Plötzlich erhielt sie einen Stoß in den Rücken, und im selben Moment spürte sie, dass die Wunde wieder zu bluten begonnen hatte. »Pardon, madame!« sagte eine kurzatmige Stimme, als sie herumfuhr, und es war nur ein älterer Mann, der sie um Verzeihung heischend ansah, »pardonnez-moi, s’il vous plaît!«
    Aber als sie wieder nach vorn schaute, meinte sie zu sehen, wie zwei Sicherheitsmänner sich zunickten. Ihr Koffer fuhr gerade durch die Schleuse, sie konnte den Inhalt fast plastisch sehen. Der Mann am Monitor blickte auf und musterte sie. Sie merkte, dass sie stehen geblieben war. Sie ging weiter und griff nach ihrem Koffer, als sich einer der Sicherheitsmänner plötzlich entfernte. Jetzt konnte sie den Mann sehen, dem der erste zugenickt hatte, und da wusste sie, dass es ab hier nicht mehr zu einfach sein würde. Sie erkannte das tote Auge, den fahlen, leeren Perlmuttblick, der genau auf sie gerichtet war. »Madame«, sagte der Mann. »Madame le docteur …«, und winkte sie zu sich.
    Der Mann am Scannerband nahm ihren Koffer herunter. Langsam ging sie auf den, der ihr gewinkt hatte, zu. Als sie nah genug war, hob er eine Hand, damit sie stehenblieb. »Je suis une des médecin de service«, sagte sie. Er nickte, »Je sais, madame.« Mit einem Handscanner fuhr er in einigen Zentimetern Abstand über ihre Weste, Brust, Arme, Rücken. Es zirpte ein paarmal an den Druckknöpfen, aber das schien ihn nicht zu interessieren. Er nickte wieder, sagte »merci, madame« und deutete auf ihren Koffer, den der Mann am Scanner ihr entgegenhielt.
    Sie nahm den Koffer. Sie ging an dem Mann mit dem toten Auge vorbei. Sie drehte sich nicht um. Sie ging einfach weiter bis zum großen Saal, warf einen Blick hinein. Der Saal war riesig. Er fasste bestimmt mehrere Tausend Zuschauer, die auf ihren roten Polstersitzen wie in einem Amphitheater saßen, im Halbrund aufsteigender Reihen, unter einem schwarzen Plafond mit einem Firmament von weißen Punkstrahlersternen. Ganz
unten befand sich eine Bühne, auf der ein langer Tisch mit zwölf Stühlen und Namensschildern vor den Plätzen stand. Es gab zwei Kameras rechts und links von dem Tisch, Mikrofone hinter jedem Namensschild und daneben jeweils ein Glas und eine Flasche Perrier. Hinter dem Tisch ragte eine große Leinwand auf, eine kleinere stand links daneben, und noch weiter hinten verbarg ein schwerer dunkelblauer Vorhang den Rest der Bühne.
    Wenn du ein Attentäter wärst, was für einen Platz würdest du dir suchen? Hinter dem Vorhang? Unten vor der Bühne, in einer der vorderen Reihen? Oder ganz am anderen Ende, mit einem Gewehr mit Zielfernrohr, in der obersten Reihe oder noch höher, hinter dem Fenster, in dem Raum, in dem die Scheinwerfer bedient werden?
    Ella entdeckte die Kameras und Mikrofone im Auditorium, von denen Lazare gesprochen hatte. Die meisten Aktionäre hatten inzwischen ihren Platz eingenommen, auch die Kameramänner standen bereit, und vor der Bühne war ein halbes Dutzend Sicherheitsleute in Position gegangen. Ein schlanker, dunkelhaariger Mann in einem silbergrau changierenden Anzug ging langsam die kleine Treppe zur Bühne hinauf, in der Hand einen Stapel Papiere. Irgendwo ertönte ein gedämpfter Gong wie in der Theaterpause, und das Stimmengemurmel, das die ganze Zeit in der Luft gehangen hatte, wurde leiser.
    Du musst näher ran, dachte sie, in die Garderobe oder dahin, wo die Bilder der Kameras ankommen, wo die Monitore sind; wo man den ganzen Saal überblicken kann.
    Sie ging draußen auf dem Gang weiter zur anderen Seite des Amphitheaters. Die letzten Teilnehmer der Versammlung eilten an ihr vorbei, um ihre Plätze einzunehmen. Der dicke blaue Teppichboden verschluckte das Geräusch ihrer Schritte. Die Ordner fingen an, die Türen zum

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