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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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Beweismaterial«, sagte Aziz, jetzt ebenso schroff und zornig wie sein Kollege. »Viel haben wir ja nicht!« Er stand auf, drückte die Stopp-Taste des Rekorders und nahm die Kassette aus dem Gerät. »Wissen Sie, was komisch ist?«, sagte er. »Ich hatte vorhin ein Gespräch auf dem Gang – die Spurensicherung hat nicht den geringsten Hinweis auf die Anwesenheit eines Mannes in der Wohnung des Mädchens gefunden. Und falls es dort wirklich einen Überfall gegeben haben sollte, existieren auch dafür keine Beweise. Bei so einem Gemetzel müsste es doch irgendwas geben – Blut, Fingerabdrücke, verschmierte Fußspuren da, wo er sich vor Ihnen versteckt hat, rote Spritzer an den Wänden oder dem Fenster, durch das er abgehauen ist, nicht? Wir haben also Ihr Wort und das des Nachbarn aus dem
zweiten Stock, aber der ist sich plötzlich gar nicht mehr sicher, was er nun genau da im Dunkeln gesehen hat.« Er ging zur Tür. »Mal schauen, was bei der Untersuchung der Wohnung Ihres Freundes rauskommt. Bleiben Sie für uns erreichbar, ja?«
    Â»Bringen Sie mich nicht nach Hause?«, fragte Ella. »Kann irgendjemand von Ihnen mich nach Hause fahren?«

9
    Es war kurz vor Mitternacht, und Ella stand allein am Hintereingang des Gebäudes und sah auf den dunklen Hof mit den abgestellten Einsatzfahrzeugen hinaus. Der Hof war so groß wie ein Fußballplatz und wurde beleuchtet von den wenigen Fenstern in den wuchtigen Backsteinmauern und den Scheinwerfern über den Toren.
    Du musst einfach losgehen, dachte sie, ganz ruhig, nicht rennen. Hier wird er dir nichts tun.
    Ihr Blick ging über die Seitenflügel des Gebäudes hoch zum obersten Stockwerk, nach links, nach rechts, von Fenster zu Fenster, den erleuchteten und den schwarzen. Er beobachtete sie. Er stand hinter einem der Fenster und wartete darauf, dass sie endlich aus dem Eingang trat. Er saß in einem der Streifenwagen, unsichtbar bei ausgeschalteten Scheinwerfern. Er lauerte auf der Straße, hinter einem der Bäume, in einem geparkten Cabrio, einer Limousine. Er war ein Raubtier, und das Raubtier nahm ihre Witterung auf .
    Ella ging los, tat einen Schritt nach dem anderen, erst zögernd, dann sicherer. Ging über den Hof, durch die Dunkelheit, vorbei an den abgestellten Streifenwagen und vergitterten Einsatzbussen. Roch die Ausdünstung warmer Motoren. Hörte ihre eigenen Schritte nicht, spürte sie nicht einmal. Ging schneller, auf das offene Tor zu, hinter dem der Verkehr vorbeiflutete. Im Gehen sah sie zu den Fenstern hoch, konnte aber niemanden entdecken, auch nicht hinter sich, als sie sich in der Mitte des Hofs kurz umdrehte.

    Sie erreichte das Tor – die Pförtnerloge war leer –, und dann war sie auf dem Bürgersteig, und im nächsten Moment rannte sie. Sie lief um die nächste Ecke, rannte weiter, immer schneller, und ihre Angst verschwand. Je länger sie rannte, desto weniger Angst verspürte sie. Die Nachtluft schoss ihr in die Lungen, ihre Schuhsohlen schlugen auf den Asphalt. Sie rannte schneller als die Fahrräder, die Autos, die Motorräder, und sie ließ alle hinter sich zurück. Ihr Kopf wurde leicht, und die Muskeln begannen zu brennen, aber sie spürte die Angst nicht mehr und auch nicht das Rasen ihres Herzens.
    Sie rannte bis zur nächsten Querstraße. Trat auf der Stelle, ohne mit dem Laufen aufzuhören, wartete den passenden Moment ab, die winzige Lücke im Fluss der vorbeirasenden Fahrzeuge, die Lücke, die nur für sie groß genug war, und als sie kam, lief sie los. Sie erreichte die andere Straßenseite, und auch dort rannte sie weiter, ein Stück die breite Querstraße entlang, dann um die nächste Ecke. Sie stieß auf einen Kanal, und noch immer rannte sie, rannte am Kanal entlang, bis sie das Gefühl hatte, ihre ganze Lunge sei wund und verätzt und fülle sich mit Blei statt mit Sauerstoff.
    Stolpernd blieb sie stehen. Die Dunkelheit vor ihren Augen flimmerte. Sie beugte sich vor, stemmte die Handteller gegen die Knie. Ihre Muskeln brannten, und die Beine zitterten. Der Speichel auf ihrer Zunge schmeckte wie Blut. Der Puls in ihrer Halsschlagader hämmerte gegen die Kehle. Sie schloss die Augen. Keuchend wartete sie ab, bis sie wieder klar sehen konnte, dann schaute sie sich um.
    Rechts von ihr führte eine Fußgängerbrücke aus verschnörkeltem Eisen über das Wasser. Sie lief

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