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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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während die Gäste an den Tischen eines Restaurants nebenan neugierig die Köpfe hoben. Max lief zu den im Freien stehenden Tischen und begann, wahllos auf Kellner und Gäste einzureden, von denen einige ihn einfach ignorierten, während andere lachten, aber keiner half ihm aus seiner Zwangsjacke. Als Ella und Annika bei ihm eintrafen, war er erschöpft und verschwitzt, aber seine Augen glänzten wie nasse Murmeln. »Das ist Freiheitsberaubung«, erklärte er mit einem Anflug von Würde, wie sie so nur ein Betrunkener aufbringen konnte.
    Â»Stimmt«, pflichtete Annika ihm bei, »und die erträgt man besser im Sitzen. Kellner, bringen Sie uns eine Flasche Champagner! «
    Â»Sie werden den doch jetzt nicht etwa losbinden«, sagte ein Mädchen mit einer roten Irokesenfrisur am Nebentisch.

    Â»Keine Sorge«, erklärte Annika, »er ist ausgebrochen, und wir bringen ihn wieder zurück. Er ist nicht wirklich gefährlich, solange er etwas zu trinken bekommt.«
    Â»Es kann höchstens sein, dass er Sie beißt«, warf Ella ein.
    Â»Aber wir haben Spritzen gegen Tollwut dabei«, sagte Annika.
    Max sank auf einen freien Stuhl. Der Kellner erschien an ihrem Tisch und sagte: »Entschuldigen Sie, dieser Tisch ist leider reserviert. Tut mir leid.«
    Â»Ja, mir auch«, sagte Annika. »Denn wenn er nicht sofort seinen Champagner bekommt, kriegt er vielleicht wieder einen Anfall, und dann …« Sie ließ den Satz unvollendet und blickte nachdenklich auf die Kehle des Kellners, die verletzlich und preisgegeben aussah.
    Â»Champagner und einen Strohhalm«, sagte Ella. »Das beruhigt ihn.«
    Â»Mich nicht«, sagte das Mädchen mit der Irokesenfrisur am Nebentisch. Es zog sich etwas tiefer in seine übergroße schwarze Lederjacke zurück. »Mich beruhigt das nicht.« Ein silberner Ring in seinem linken Nasenflügel fing das Licht von der Markise und ließ es über ihrer gepiercten Oberlippe zittern.
    Â»Er heißt Max«, sagte Annika. »Meistens macht er keine besonderen Probleme, aber in manchen Sommernächten – «
    Â» – wenn Vollmond ist – «, ergänzte Ella.
    Â»Ich hole den Champagner«, sagte der Kellner und eilte davon.
    Das Mädchen mit der Irokesenfrisur holte Geld aus der Seitentasche seiner Lederjacke und legte es neben sein halb ausgetrunkenes Weinglas.
    Â»Bitte, gehen Sie nicht«, bat Annika.
    Â»Warum nicht?«, fragte das Mädchen.
    Annika fuhr Max mit der Hand über das wirre Haar, eine Geste, zu der Ella schon die ganze Zeit Lust gehabt hatte. »Er
braucht viele Liebe. Wenn Sie jetzt gehen, fühlt er sich zurückgestoßen. «
    Das Irokesen-Mädchen betrachtete ihn teilnahmsvoll. »Er sieht süß aus. Irgendwie traurig und verloren.«
    Â»Wir passen auf, dass er sich nicht selbst verliert«, sagte Ella.
    Â»Durst«, rief Max. »Durst, Durst, Durst!«
    Der Kellner kehrte an ihren Tisch zurück, in den Händen ein Tablett, auf dem ein Kübel mit zerstoßenem Eis, eine Flasche Champagner und drei Gläser standen. »Wir haben innen noch Platz, da ist es etwas leerer«, sagte er, »falls es Ihnen hier draußen vielleicht zu kühl wird – «
    Â»Es gefällt uns sehr gut hier draußen«, sagte Ella.
    Es war eine warme Nacht gewesen, genau wie heute Nacht, und die Markise des Cafés flatterte im Wind, der vom Mehringdamm herunterwehte. Ella hatte Max beobachtet, wie er in seine Zwangsjacke geschnürt dasaß und den Champagner mit dem Strohhalm schlürfte, und sie fand, dass das Mädchen namens Spinne recht hatte – er sah tatsächlich süß und verloren aus, und wenn er lächelte, schmolz etwas in ihrem Herzen.
    Kurz nach jener Nacht hatte es angefangen zwischen ihnen, und eine Zeit lang war es das Beste gewesen, das ihr je widerfahren war, und wenn sie jetzt daran dachte, war es in der Erinnerung immer noch gut. Nur dass Max jetzt tot war. Er war tot, und sein Mörder lief frei herum. Ich zahle es ihm heim, Max, dachte Ella. Wenn die Polizei ihn nicht erwischt oder wenn sie ihn nicht einmal sucht, weil er dort Freunde hat, dann kümmere ich mich darum. Du wirst staunen, wozu ich fähig bin.
    Jetzt merkte sie, dass sie weinte, aber es störte sie nicht. Nach so einer Nacht und so einem Tag durfte man weinen. Es war in Ordnung.

10
    Wenn ein Raubtier die Witterung seiner Beute verliert, legt es

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