Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
Vom Netzwerk:
noch immer an. Er schwankte leicht im Rhythmus des Wagens, genau wie sie. Sie schüttelte sich die Haare aus dem Gesicht. Warum warst du in der Wohnung?, dachte sie. Wer bist du? Was gibt es für eine Verbindung zwischen dir und dem entführten Mädchen? Sie wandte ihm den Rücken zu und wartete bis zur nächsten Station, ehe sie sich wieder umdrehte. Er stieg nicht aus. Er ließ sie nicht aus den Augen.
    Du musst ihn auch ansehen. Zeig ihm, dass du keine Angst hast. Dass er dich nicht einschüchtern kann.

    Die U-Bahn-Polizisten verließen den Waggon wieder, und das Mädchen im Tennisdress stieg auch aus. Niemand stieg zu, und Ella dachte, was ist, wenn alle anderen aussteigen und nur wir beide sind noch im Zug? Was passiert dann? Vorsichtig, um sich nicht zu schneiden, schob sie die Hand zu dem Messer in die Jackentasche. Betastete die scharfe Klinge, die nadelfeine Spitze sacht mit dem Daumen. Der Skinhead setzte die Bierdose an den Mund, trank und rülpste.
    Die nächste Station war Stadtmitte. Der Franzose beugte sich vor und spähte durch die Fenster nach draußen, breitbeinig wie ein Seemann ohne sich festzuhalten. Als der Zug hielt, drückte er den Öffnen- Knopf. Er stieg aus, und gleich darauf befand sich auch Ella auf dem Bahnsteig und ging wieder hinter ihm her. Er nahm den Ausgang zur Friedrichstraße. Im Gewimmel der Menschen folgte sie ihm nach oben.
    Rechts und links vom U-Bahnausgang erhoben sich arrogante Neubauten, Geschäftshäuser mit kupferfarben verspiegelten Fenstern in Sandsteinfassaden, schrankengesicherten Tiefgaragen, kalt leuchtende Bars, Designershops und durchgestylte Fast-Food-Restaurants für die gestresste Laufkundschaft. Der Franzose ging schneller, als wüsste er wieder, wo er war. Ella hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten.
    Um sie herum spielte jetzt das bunte, lärmende Boulevardstück Sonntagabend in Berlin , Menschen auf den Trottoirs, an den Tischen der Cafés und Bars, auf Fahrrädern und in Autos und Bussen. Noch vor zwei Tagen war sie eine von ihnen gewesen, Teil dieser bunten Inszenierung, die ihr auf einmal so fremd vorkam wie der Alltag auf einem unbekannten Planeten.
    Der Franzose bog in die überdachte Zufahrtsbucht des Hilton Berlin gegenüber vom Dom, und als er sich der Drehtür näherte und der Lichterglanz des Hotelfoyers auf sein Gesicht fiel, dachte sie noch einmal, dass er eigentlich nicht aussah wie ein Mörder.

14
    Aus der automatischen Drehtür trat Ella in die klimatisierte und von leise perlender Klaviermusik erfüllten Lobby des Hotels. Über Marmor und weiche Teppiche schritt sie durch eine Fünfsternekulisse, vorbei an Farnen, Säbelzahnpalmen und anderen exotischen Pflanzen in Jugendstiltöpfen. Die ganze Halle war dekoriert mit weichen Sitzgruppen, sanft plätschernden Springbrunnen, weitläufigen Treppen und kleinen Boutiquen, die in schimmernden Vitrinen erlesenen Luxus anboten. Auf einer Empore, zu der eine breite Treppe hinaufführte, spielte ein Pianist im Anzug Someone to watch over me , und livrierte Pagen eilten lautlos aus den Gängen durch das lichte, weitläufige Foyer wie Statisten für das Schauspiel an- und abreisender Gäste aus fernen Ländern, sorgfältig verkörpert von ausgewählten Chinesen, Indern, Amerikanern und Arabern mit ihren Frauen und Kindern.
    Sie entdeckte den Franzosen an der Rezeption im Gespräch mit dem Concierge, der bedauernd den Kopf schüttelte. Dann ging er weiter zu den Fahrstühlen im Hintergrund, wo er einen soeben mit einem sanften Ping! gelandeten Lift betrat, ohne sich noch einmal umzuschauen. Hinter ihm dirigierte ein fülliger Ägypter mit einem reich bestickten Hemd, das bis fast zu den Knien über seine schwarze Hose hing, einen kleinen Jungen und zwei von Kopf bis Fuß verschleierte Frauen in die Kabine. Ella schob die rechte Hand wieder zu dem Messer in der Jackentasche, umklammerte den Griff und schloss sich der Familie an.

    Der Ägypter drückte den Knopf für die fünfte Etage. Der Knopf für die dritte leuchtete bereits. Ella stand dicht neben dem Franzosen, der sie erst jetzt bemerkte. Seine Augen weiteten sich überrascht, und er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, überlegte es sich dann aber offensichtlich anders. Jetzt betrachtete sie ihn genauer: schiefergraue Augen, grau wie das Meer an bedeckten Tagen, wenn das Licht am Wasser abzuprallen schien.

Weitere Kostenlose Bücher