Erlosung
â¦Â« Seine Stimme war jung, und er sprach Französisch, genau wie die verschwundene Frau. »Non ⦠non ⦠peut être elle est ⦠oui, je crois â¦Â«
Er telefonierte. Er sprach gar nicht mit ihr, er redete in ein Handy. Sie wollte, dass das Zittern in ihrem Bauch aufhörte und bewegte das rechte Bein, und da war die Katze, und die Katze fauchte, und dann schrie Ella. Sie stürzte und sprang
gleichzeitig, riss den Vorhang aus der Schiene an der Decke und fiel damit gegen den Mann, der ebenfalls stürzte.
Sie verhedderte sich in dem Stoff, der Schürhaken wurde ihr aus der Hand geprellt. Die Katze kratzte und warf sich in den Vorhangfalten hin und her. Der Mann rief etwas auf Französisch, es klang überrascht und zornig. Er schlug nach Ella, aber der Stoff dämpfte den Schlag, und dann schüttelte sie den Vorhang ab und kam auf die Beine. Sie lief los, stolperte und fing sich wieder, lief durch den Gang und das Wohnzimmer und den Korridor zur Tür. Sie riss die Tür auf, stürzte ins Treppenhaus und rannte die Stufen hinunter, und die ganze Zeit dachte sie, der Mann wäre dicht hinter ihr.
Aber das war er nicht.
13
»Bist du noch zu retten?!«, rief Annika ins Telefon. »Willst du, dass sie auch diese Nummer erfahren? Wo bist du gerade?«
»In meinem Wagen«, sagte Ella. »Vor dem Haus.«
»Was hast du vor?«
»Ich rufe die Polizei.«
»Gibt es eine Telefonzelle in deiner Nähe?«
»Ich seh keine.«
Als der Mann aus der Tür und unter dem Gerüst hervortrat, fotografierte Ella ihn mit ihrem neuen Handy. »Da ist er«, sagte sie.
»Was tut er?«, fragte Annika.
»Nichts. Er geht die StraÃe lang.«
»Geh ihm nach, aber sei vorsichtig. Irgendwann spürt man es, wenn man verfolgt wird. Man kriegt so ein Gefühl für den fremden Blick, der auf einen gerichtet ist, so ein Ziehen zwischen den Schulterblättern.«
»Woher weiÃt du so genau darüber Bescheid?«
»Thatâs another sad story«, sagte Annika. »Ich erzähl sie dir, wenn wir uns sehen. Aber inzwischen weià ich mehr über solche Sachen, als mir lieb ist.«
Ella stieg aus dem Wagen, sperrte ihn ab und folgte dem Mann zur Ecke. Er wandte sich nach rechts in die KreuzbergstraÃe. Sie ging ihm nach, das Handy in der linken Hand. Sie hielt genügend Abstand, ging schneller, wenn der Mann schneller
ging, und wenn er stehen blieb, blieb sie auch stehen. Es war jetzt schon dunkel, nur noch einige rote Streifen am Himmel. Die StraÃenlaternen brannten, aber ihr Licht reichte nicht bis auf den Asphalt, wo die roten Rücklichter der Autos in der feuchten Hitze des Abends zu flirren schienen. Ella achtete darauf, dass immer etwas zwischen ihr und dem Mann war â andere Passanten, ein Baum, ein Wagen.
»Hast du irgendjemand auÃer mir mit dem neuen Handy angerufen?«, fragte Annika. Ihre Stimme in dem Ohrstöpsel klang sehr nah, aber immer noch anders, nach etwas Fremdem in ihr. Vielleicht lag es daran, dass sie so lange nichts voneinander gehört hatten, dachte Ella. Sie sagte: »Nein, nur dich, damit du die Nummer hast.«
»Gut.« Annika schien sich vom Hörer zu entfernen. »Ruf mich besser auch nicht mehr an, nur für den Fall, dass dieses Telefonat mitgehört wird und jemand meinen Anschluss überwacht. Ich melde mich bei dir, wenn ich in Berlin bin.«
Ella wechselte die StraÃenseite, um nicht ununterbrochen hinter dem Franzosen zu gehen. Sie überholte ihn mit abgewandtem Gesicht und lieà ihn dann langsam kommen, ehe sie ihm wieder folgte. Mit der freien Hand hob sie das kleine Mikro ihres Headsets vor den Mund, um einen Teil ihres Gesichts zu verbergen.
»Eigentlich finde ich Beerdigungen zum Kotzen, aber wennâs der eigene Bruder ist, muss man ja wohl hingehen«, sagte Annika, und wieder erklang das Scheppern eines halb vollen Tablettendöschens. »Ich weiÃ, es war meine Schuld, dass wir solange nichts voneinander gehört haben, und irgendwann demnächst werde ich dir erklären, warum ich auch Max zum Stillschweigen verdonnert habe, aber â¦Â«
Der Franzose sah sich nicht um. Sein dunkelblondes Haar flatterte im Wind, und es tauchte immer wieder vor Ella auf, zwischen zwei Köpfen, über anderen Schultern, in den gelben
Kegeln der StraÃenlaternen, sodass sie ihm einen Vorsprung lassen konnte und ihn trotzdem nicht aus den
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