Erlosung
Augen verlor. Die frühe Dunkelheit schützte sie; die Passanten, die sich unermüdlich allein, zu zweit oder in Gruppen über die belebten Trottoirs bewegten, schützten sie; die Kellner, die an den im Freien stehenden Tischen vor den Bars und Cafés servierten, schützten sie.
»Aber?«, fragte Ella.
»Du hast mir gefehlt«, sagte Annika. Ihr Atem ging jetzt schneller, die Worte kamen gepresst, als wäre ihre Kehle eine Faust. »Ich muss â hör mal, dein Wagen, den musst du auch loswerden. Fährst du noch das Cabrio? Wenn sie dich überprüft haben, wissen sie das. Sei ja vorsichtig. Bitte!« Am anderen Ende der Leitung schien etwas zu Boden zu fallen, ein scharfes Knacken ertönte, und dann war die Verbindung unterbrochen.
»Anni?!«
Der Ohrstöpsel blieb stumm. Ella zog ihn heraus, und ohne die Augen von dem flatternden blonden Haar zu lassen, holte sie noch einmal das Foto des Franzosen auf das Handy-Display und zoomte auf sein Gesicht. Sie fand, dass er eigentlich nicht wie ein Mörder aussah. Seine Miene zeigte nicht die gefühllose Maske eines Raubtiers, sondern eher Beunruhigung, sogar Sorge.
Sie klappte das Handy zu. Welcher Mörder sieht schon wie ein Mörder aus. Der Mann näherte sich einer Pizzeria und blieb vor dem Aushang mit der Speisekarte stehen. Ein paar Raucher saÃen an kleinen viereckigen Tischen, und das Essen sah gut aus, aber er ging nicht hinein. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Er holte sein Handy heraus und klappte es auf, steckte es dann jedoch wieder ein, ohne zu telefonieren. Einen Moment lang fürchtete sie, er könnte sich umdrehen und sie entdecken; sie einfach ansehen.
Irgendwann spürst du es, wenn du verfolgt wirst. Sie wartete, bis er die nächste StraÃe überquerte, lieà ihm einen Vorsprung. Als sie die Pizzeria erreichte, blieb sie ebenfalls stehen. Der Tisch vor ihr war gedeckt, aber unbesetzt. Schnell griff sie nach einem der scharfen Pizzamesser neben den Tellern, steckte es in die Jackentasche und ging weiter.
In der Luft hing der Geruch von Knoblauch und gedünsteten Tomaten. Sie dachte daran, dass sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Sie war von der Charité zum Hauptbahnhof gefahren, um sich das neue Handy zu besorgen, und während sie darauf wartete, dass der Laden öffnete, hatte sie in einem Backshop gefrühstückt.
Nach dem Frühstück hatte Ella das viel zu teure Fotohandy gekauft und dann in einem anderen Laden frische Unterwäsche, zwei Paar Strümpfe und einige T-Shirts. In einer Drogerie hatte sie einen Deostick, eine Zahnbürste, Zahnpasta, Parfüm und eine Packung Tampons erstanden. AnschlieÃend hatte sie alles auf dem Boden hinter den Sitzen des Karmannn verstaut, den Wagen in einer SeitenstraÃe in Kreuzberg geparkt und mit angezogenen Beinen auf den beiden Vordersitzen geschlafen. Als sie einige Stunden später aufgewacht war, hatte sie in einem Internetcafé die Namen gegoogelt, die gestern Nacht bei dem Verhör im LKA gefallen waren: Dr. Randolph Freyermuth, der Patentanwalt, und seine Tochter Sonja. Sie hatte sich die Adresse und Telefonnummer seiner Berliner Kanzlei notiert, auÃerdem den Namen der Schweizer Universität, an der seine Tochter studierte.
Annika hatte sie erst angerufen, nachdem sie aus der Wohnung gerannt war, in der Sicherheit ihres Wagens, der vielleicht längst keine Sicherheit mehr bot.
Ella wunderte sich, wie selbstverständlich Annika mit alldem umging, als kümmerte sie ihr eigener Schmerz nicht. Verlust, die traurigen, schmerzlichen Dinge waren schon immer etwas
gewesen, mit dem sie sich an irgendeinen dunklen Ort zurückzog, etwas, das kein Tageslicht und keine Gesellschaft vertrug. Dort, an diesem einsamen Ort, betrachtete sie es, drehte es hin und her, und wenn es nötig war, kämpfte sie damit, bis es sich nicht mehr regte. Danach kehrte sie als Siegerin zurück, gereinigt, klar und sprühend vor guter Laune.
Der Franzose blieb wieder stehen. Er sprach eine junge Frau an, die in Richtung Mehringdamm deutete, dann ging er weiter. Er ging ohne Eile. Er verharrte vor einer Eisdiele, einem Gemüseladen, schaute in die Auslagen eines grell bunten Ladens für Kinderbekleidung. Ella hielt sich hinter einer Gruppe von Jugendlichen in schwarzen Lederklamotten voller Nieten und ReiÃverschlüsse, Jungen und Mädchen, die sich im Gehen ihre Handys zeigten,
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