Erlosung
ihr schien nachzugeben, und auf einmal verlieà sie alle Kraft. Sie streckte nicht einmal die Arme aus. Sie fiel an seine Brust und ihr Kopf schlug gegen seine Rippen. Nach einem Moment, in dem er starr blieb vor Ãberraschung, spürte sie, wie seine Arme sich hoben. Doch statt sie zu berühren, bewegten sich seine Hände im Abstand von wenigen Zentimetern über ihren Hinterkopf, den Nacken, den Hals, als hätte er Angst, sie an der falschen Stelle anzufassen.
Endlich spürte sie seine Umarmung, doch sie kam zu spät, um noch zu trösten. Sie löste sich von ihm, mit einem Ruck, und sagte: »Wir haben doch keine Chance, Dany â ich habe keine Chance! Sie sind so viele, sie sind überall. Sie töten jeden! Max, Mado, Michalewski, sogar den Anwalt.«
Er antwortete nicht gleich. Nach einer Weile fragte er: »Bist du sicher, dass Mado tot ist? Woher weiÃt du davon?«
»Freyermuth hat es mir gesagt. Es kam im Fernsehen.«
»Wer hat sie gefunden? Wo?«
»Irgendjemand in der Charité. Angeblich war sie die ganze Zeit da, sie ist nur in dem Chaos nach dem Diskobrand vorübergehend verlorengegangen.« Ella spürte einen pochenden Druck hinter den Schläfen. »WeiÃt du, die Charité war für mich immer etwas ganz Besonderes«, erklärte sie. »Von dem Moment an, in dem mir klar wurde, dass ich Ãrztin werden will, drehte sich für mich alles darum, dort zu studieren, dort mein Praktikum zu machen, dort meinen Beruf ausüben zu können. Nur dort! Es gab bestimmt bessere Kliniken, modernere, schönere, aber für mich kam bloà die Charité infrage. Sauerbruch hat da operiert, das muss man sich mal vorstellen. Und ich habe es geschafft, ich habe es tatsächlich geschafft! Ich kann einfach nicht glauben, dass sie sich für so was hergibt, dass die Klinikleitung sich von Mördern benutzen lässt oder sogar gemeinsame Sache mit ihnen macht. Ãrzte, an meiner Charité!«
»Wann war das?«, fragte Dany. »Ich meine, als du wusstest, dass du Ãrztin werden willst? Wie alt warst du da?«
»Fünfzehn«, sagte sie.
Damals, in dem Sommer, in dem sie fünfzehn war, lebte sie mit ihren Eltern in einem zweistöckigen Fachwerkhaus am Rand eines Dorfes in der Lüneburger Heide. Das Haus lag gleich neben dem Friedhof, und an heiÃen Tagen konnte sie im Schatten der Kirche auf einer Bank sitzen und lesen, bis am Abend die Sonnenuntergänge die langen Schatten der Grabsteine über die Gräber warfen. Wenn sie mit ihren Hausaufgaben fertig war und keine Lust zum Lesen oder Fernsehen hatte, ging sie spazieren, meistens allein. Sie schlenderte über die schmalen StraÃen, vorbei an den niedrigen, schiefergedeckten Häusern, dem Tabakhändler, der auch Zeitschriften und Leihbücher führte, dem Gemischtwarenladen, der Drogerie, der Apotheke, dem Geschäft für Konfektionskleidung und dem Friseursalon mit dem verchromten Teller über dem Eingang.
Sie trug das lange, kastanienfarbene Haar offen, und man sah
sie meistens in einem khakifarbenen Männerhemd, einer kurzen Denim-Hose und ausgetretenen Sandalen. Wegen ihrer langen Beine und des schlanken Halses nannten die Nachbarn sie Antilope , und ihren Vater, den Dorfschullehrer, nannten sie Van Gogh , weil er an jedem Tag der Ferien schon früh mit Leinwand, Staffelei und Farbtasche aus dem Haus stapfte, um die Landschaft rings um das Dorf zu malen.
Wann immer sie konnte, begleitete Ella ihn, sah ihm beim Mischen der Farben zu und dachte, dass sie auch Malerin werden wollte, wenn sie älter war. In jenem Sommer war der Himmel oft bezogen, und im fahlen Licht wirkten die sandigen Wege und das dunkle Malvenrot des Heidekrauts, aus dem hier und dort das Silberweià einer Birke hervorbrach, auch ohne Pinsel und Leinwand schon wie gemalt. Das flache Land, der bleiern schimmernde Weiher und hinter dem Dorf der Drachenkamm, alles fand sich auf den Bildern ihres Vaters wieder. Dazu die Bauern, die ihre Felder bestellten oder die Wildgänse, die in Schwärmen dem Horizont zustrebten, und immer wieder Sturmwolken. Ella erinnerte sich an das Krächzen der Gänse, den verwehten Glockenklang, das ferne Motorengeräusch von Traktoren und Mähdreschern.
Sie erinnerte sich auch an den Sonntag, an dem der rote Spritzenwagen der Freiwilligen Feuerwehr aus der Kreisstadt auf dem Kirchplatz hielt, nicht wegen der Waldbrände, die um diese
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