Erntedank
Sache. Dann kann ich von mir aus noch ein Auge zudrücken. Aber spinnen tust du schon!«
»Ich hab an den TÜV gar nicht mehr gedacht. Du weißt ja, die Serienmorde. Da kommst du zu nix mehr.«
»Lenk nicht ab, Klufti. Und das nächste Mal gibt’s kein Pardon mehr. Auch für dich nicht. Servus.«
Kluftinger versuchte sich zu erinnern, ob er dem Kollegen einmal auf die Füße getreten war, weil er ihn gar so hart anfasste. Allerdings fiel ihm, außer den standardmäßigen Reibereien zwischen Kripo und Verkehrspolizei, kein konkreter Vorfall ein. Markus schwante Böses, als er mit seinem Vater drei der sechs Kannen aus dem Auto hob. Er wusste, wie wertvoll dem der goldgelbe Saft war.
»Dann bleibst du da und passt auf den Saft auf, oder?«, ordnete sein Vater mehr an, als dass er fragte.
»Wieso bleibst du denn nicht hier? Schließlich hast du das Auto so voll geladen. Und Mama wär es bestimmt auch nicht recht, wenn ich hier im Nieselregen sitze.«
Kluftinger dachte kurz nach. Markus hatte Recht. Der Verweis auf seine Ehefrau und die zu erwartende Gardinenpredigt, wenn sie erfahren würde, dass er »den armen Markus« an der Straße hatte sitzen lassen, überzeugten ihn.
Missmutig setzte er die Kapuze seines zu klein gewordenen Arbeitsparkas auf und nahm auf drei Aluminium-Milchkannen Platz, die am Straßenrand standen.
»Und mach schnell!«, rief er seinem Sohn hinterher, als dieser losfuhr.
Als Kluftinger junior etwa eine halbe Stunde später zurückkam, war sein Vater nicht nur völlig durchgefroren und nass, er hatte auch mindestens ein halbes Dutzend ungläubiger Blicke von Bekannten über sich ergehen lasen müssen, die in der Zwischenzeit vorbei gefahren waren. Das würde bei der nächsten Musikprobe wieder zahllose Späße auf seine Kosten nach sich ziehen, denn in Altusried verbreiteten sich derartige Vorfälle wie ein Lauffeuer.
»Mir ist eine Kanne umgekippt, drum bin ich später dran«, entschuldigte sich Markus und hatte Mühe, beim Anblick, den die durchnässte Gestalt vor ihm bot, nicht zu grinsen.
***
»Ich find das fei nicht schlecht, dass unser Markus auch Beamter werden will. Da hat er immerhin ein sicheres Auskommen«, trällerte Erika fröhlich, als sie sich zu ihrem Mann in der Waschküche gesellte, der dort auf einem alten Herd den Saft einkochte.
Er konnte kaum glauben, was er da hörte. Scheinbar war sein Sohn ein besserer Psychologe, als er für möglich gehalten hätte. Denn seiner Mutter seine Pläne als gute Nachricht zu verkaufen, dazu gehörte schon ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen. Kluftinger wünschte sich selbst etwas mehr davon.
Seine Frau fügte sogar noch hinzu: »Vielleicht kannst du da ein bisschen deine Beziehungen spielen lassen, wenn es so weit ist.« Den Kommentar, dass sie neuerdings wohl alles ganz toll finde, was ihr Sohn sich in den Kopf setze, verkniff er sich. Er hatte noch dutzende Liter Apfelsaft vor sich und konnte eine helfende Hand gut gebrauchen.
Als er um halb zwei Uhr nachts todmüde in sein Bett kroch, hatte er unzählige Liter Saft eingekocht, für kurze Zeit den Fall völlig vergessen und wieder einmal das unangenehme Gefühl, derjenige in der Familie zu sein, der am meisten arbeitete. Weil er wusste, dass diese Empfindung schon am Morgen, wenn Erika ihm das Frühstück bereitete, wieder vergangen sein würde, genoss er bis zum Einschlafen noch sein leises Selbstmitleid.
Herz, tröste dich, schon kömmt die Zeit,
Die von der Marter dich befreit,
Ihr Schlangen, ihr Drachen,
Ihr Zähne, ihr Rachen,
IhrNägel, ihr Kerzen,
Sinnbilder der Schmerzen,
Müßt in den Erntekranz hinein,
Hüte dich schöns Blümelein!
Irgendetwas kam Kluftinger seltsam vor an diesem Morgen in seinem Büro. Er brauchte ein paar Sekunden, dann fiel der Groschen: Seine Schreibtischplatte, das sah er sogar von der Türe aus, war unter einem Wust aus Papieren begraben. Er hatte kaum noch Zeit, vor der Morgenlage einen Blick darauf zu werfen, aber ein Seufzen über die viele Arbeit, nach der das aussah, war allemal drin. Ein wenig galt das Seufzen aber auch der Kiste Apfelsaft vom gestrigen Most-Abend, die er in sein Büro geschleppt hatte. Sein Rücken machte immer häufiger schlapp, eine Entwicklung, die er mit Besorgnis verfolgte. Dennoch hatte er gern eine Getränkekiste bei sich im Büro. Nicht nur, weil er sich dadurch im Vergleich zum Automaten immer ein paar Cent sparte. Er liebte das Gefühl, autark zu sein. Unabhängig vom Angebot und den Launen der
Weitere Kostenlose Bücher