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Erntedank

Erntedank

Titel: Erntedank Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Michael; Klüpfel Kobr
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nun eine ähnliche Arbeit wie Rantich. Das war der Fluch der neuen Technik: Seitdem die Polizei auch über Fax und E-Mail verfügte, passierten viele Dinge nicht mehr den Filter der Wache, sondern landeten direkt bei ihnen.
    »Ich hab schon mal alles ein bisschen sortiert. Nach verschiedenen Sagen.«
    Kluftinger hatte nicht gehört, dass seine Sekretärin den Raum betreten hatte.
    »Vielen Dank, Fräulein Henske. Wissen Sie, was? Ich hab da was für Sie.«
    Er hatte sich spontan entschlossen, seiner Sekretärin für ihre Fürsorge drei Flaschen seines Apfelsaftes zu überlassen.
    »Och, das wär doch nicht nötisch gewesen, Herr Kluftinger. Aber vielen Dank auch.« Sandy Henske wurde ein bisschen rot, was im Kontrast zu ihren momentan mittelblond gefärbten Haaren reizend aussah, wie Kluftinger fand. Sie war etwas sprachlos ob der unerwarteten Großzügigkeit ihres Chefs und schon fast wieder an der Tür, als Kluftingers Blick erneut auf den Papierstapel auf seinem Schreibtisch fiel.
    »Einen Moment noch.« Mit diesen Worten zog er aus der untersten Schublade seines Schreibtisches zwei Schnapsgläser.
    »Den ersten Schluck müssen wir schon zusammen verkosten. Ist alles aus eigenen Äpfeln. Ohne jede Chemie. So was hatten Sie damals wahrscheinlich nicht, drüben im Osten.«
    Noch bevor Kluftinger den Satz fertig gesprochen hatte, hätte er ihn gerne schon wieder ungesagt gemacht. Sandy Henske, die sich gerade noch so sehr über Kluftingers Aufmerksamkeit gefreut hatte, versteifte sich für einen Moment. Anspielungen auf die DDR konnte sie absolut nicht leiden. Zumal sie – gerade mal Anfang Dreißig – das Regime nur als Kind und Jugendliche erlebt hatte.
    »Nee, Herr Kluftinger«, antwortete sie spöttisch, »man weiß ja, dass Äpfel eigentlich ne bayerische Erfindung und auch nur in der BRD gewachsen sind. Bei der Maueröffnung wussten wir erst gar nicht, was das ist, en Apfel. Nur die, die Westfernsehen hatten, waren bereits informiert.«
    »Sandy«, versuchte Kluftinger, die Scharte mit der vertraulichen Anrede wieder auszuwetzen, »ich meine doch nur, dass damals alles sehr stark behandelt war in der Landwirtschaft wegen der Kolchosen … «
    »LPGs, Chef, keene Kolchosen.«
    »Genau. Und eigene Gärten hatte man ja auch nicht so.« Kluftinger merkte selbst, dass er sich immer tiefer hineinritt.
    »Nee, nee. Wir hatten nisch mal Häuser. Und wir waren ja so froh, als uns die Wessis endlich die Erfindung der wassergespülten Toilette brachten. Dann waren die Höfe wieder hygienisch.«
    Allmählich hatte Sandy Dampf abgelassen und sagte schließlich: »Sie meinen es sischer nisch böse, das weeß isch ja. Aber gerade hier in Bayern trifft man immer auf das Vorurteil, dass es bei uns nischt gab und wir wie im Mittelalter gelebt haben. Dabei gab’s sogar Orangen aus dem befreundeten Ausland. Kuba und so. Und dann werd isch schon mal sauer. Nischt für ungut, wie man hier sacht, Chef.«
    Mit zurückgefundenem Lächeln und drei Flaschen Saft in der Hand ging Kluftingers Sekretärin schließlich aus dem Zimmer. Einigermaßen beruhigt machte sich Kluftinger nun doch noch über seine Papiere her. Er wusste, dass er das alles Maiers Zeitungsgespräch zu verdanken hatte, aber je länger er las, desto weniger grollte er ihm. Viele der Mitteilungen schienen ihm interessant, auch wenn sie den Fall nicht einen Millimeter vorwärts bringen würden. Er hatte das Gefühl, mit jedem Tag tiefer in die mystische Vergangenheit seiner Heimat einzutauchen. Eine Vergangenheit, von deren Existenz er bisher nicht einmal wirklich gewusst hatte. Mit heimatlichen Sagen hatte er noch nie zu tun gehabt und es überraschte ihn, dass es so viele davon gab. Er erinnerte sich, dass sein Vater ihm als Bub manchmal gesagt hatte, er solle beispielsweise nicht allein ins Gschnaidt gehen, da gehe der Geist eines alten Einsiedlers um. Aber detaillierter wurden die Erzählungen nicht.
    Warum eigentlich? In der Schule hatte er sich mit der Mythologie des klassischen Altertums befassen müssen, aber Allgäuer Sagen waren eigentlich nie auf dem Lehrplan gestanden. Verriet die Art der Sagen aber nicht eine Menge über den Landstrich selbst? Im Allgäu zum Beispiel, das hatte er in der kurzen Zeit festgestellt, kamen immer wieder Gewässer und Berge als Brutstätten des Unheils in den Geschichten vor. Kein Wunder, musste den Menschen vor Jahrhunderten die Naturgewalt hier noch viel mächtiger und unbarmherziger vorgekommen sein als heute. Und die

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