Erntedank
Geräusche, die der Wald in einer dunklen, mondlosen Nacht macht, regten schließlich noch heute die Phantasie an, um wie viel mehr dann die der gottesfürchtigen, einfachen Menschen auf den Einödhöfen, ohne Telefon, Radio, Fernsehen oder sogar Zeitung?
Und noch etwas hatte Kluftinger in der Auseinandersetzung mit den Legenden seiner Heimat stutzig gemacht. Es gab Dinge, die sich niemand erklären konnte, auch heute noch nicht. Außer durch manche Sagen, die als Erklärung aber heute niemand mehr gelten ließ. Er hatte einmal in einem Sherlock-Holmes-Buch, von denen er als Kind zahlreiche verschlungen hatte, einen Satz gelesen, den er sich in seiner beruflichen Laufbahn immer wieder mal in Erinnerung rief. Der Schriftsteller Sir Arthur Conan Doyle hatte seinen Romanhelden sagen lassen: »Wenn man alles, was unmöglich ist, als Erklärung eliminiert, dann muss das, was übrig bleibt, egal wie unwahrscheinlich es auch sein mag, die Wahrheit sein.«
War auch er nicht manchmal viel zu schnell bereit, etwas beiseite zu schieben, nur weil es ihm nicht in den Kram passte oder zu unwahrscheinlich erschien?
Was war zum Beispiel mit dem Mönch in Buxheim? Hatte er ihm nicht erzählt, die Figur, die sie so intensiv betrachtet hatten, sei aus einem anderen Holz geschnitzt als das ganze übrige Chorgestühl? Warum? Er hatte eine Erklärung bereit gehabt, für die es allerdings keine historischen Belege gab. War sie deswegen weniger richtig?
Oder der Ort der Kraft, von dem seine Frau so schwärmte: Man hörte von Menschen, denen dieser Ort bei vielerlei Beschwerden geholfen hatte. War es Einbildung, wie er immer behauptete? Ließ sich der eigene Geist vom festen Glauben an das Übernatürliche in die Irre führen und seine Selbstheilungskräfte aktivieren? Oder war doch etwas dran?
Er kam nicht mehr zu einer Antwort auf die Frage, denn die Tür ging auf und seine drei Kollegen kamen herein.
»Und, was Interessantes dabei?«, fragte Strobl mit Blick auf die vielen Papiere in Kluftingers Händen. Offenbar wusste er, worum es sich dabei handelte.
»Na ja, interessant schon irgendwie. Aber ich glaub, uns hilft das nicht weiter.«
Die drei setzten sich in die Sofaecke und Kluftinger rollte seinen Schreibtischstuhl zu ihnen. Irgendetwas wollte er ihnen noch sagen, etwas, das ihm gerade durch den Kopf gegangen war … natürlich: der Mönch.
»Sagt mal, wir haben darüber wegen der Aufregung gar nicht mehr gesprochen. Aber was haltet ihr eigentlich von der Geschichte mit der Figur in Buxheim? Ihr wisst schon, die von dem Foto.«
»Passt irgendwie zum Rest«, sagte Strobl und zog die erwartungsvollen Blicke der Kollegen auf sich.
»Was heißt das: ›Passt zum Rest‹?«
»Na, in Rappenscheuchen haben wir den toten Raubritter, der für seine Sünden bezahlen musste. Und bei der Leiche der Frau finden wir das Foto des bußfertigen Sünders, der gerettet wurde, weil er seine Sünden bereute.«
»Ja, schon, aber warum haben wir bei der ersten Leiche nicht auch ein Foto gefunden?«, fragte Hefele.
Eine Minute lang schwiegen sie, dann atmete Kluftinger tief durch. »Haben wir ja«, sagte er und fixierte seine Kollegen.
»Nein, haben wir nicht«, protestierte Hefele, »Wir haben lediglich einen Zettel … «
»Jaja, ich weiß, so mein ich das nicht«, unterbrach ihn Kluftinger. »Was ich sagen will ist – und ich verstehe nicht, warum uns dieses Detail entgangen ist –, dass wir das Foto bei der ersten Leiche gefunden haben.«
Die Kollegen sahen sich verwirrt an.
»Rechnet mal nach: Der Sutter war zwar die erste Leiche, die wir gefunden haben. Aber das erste Opfer war die Heiligenfeld.«
»Verdammt, du hast Recht«, warf Strobl ein und schüttelte den Kopf.
»Ja, und ich frage mich, was mit uns los ist. So was darf uns doch nicht entgehen. Gerade in diesem Fall, wo absichtlich Spuren gelegt werden, dürfen wir nichts übersehen, nichts durcheinanderbringen.«
»Aber was macht es denn für einen Unterschied, ob das Foto bei der ersten oder der zweiten Leiche gelegen hat?«, wollte Maier wissen.
»Zunächst ist mal wichtig, dass wir die Reihenfolge genau vor Augen haben, wenn wir den Code unseres Täters entschlüsseln wollen. Und in diesem Fall scheint es mir, als wollte er uns gleich die Richtung vorgeben: Reuige Sünder werden verschont, so in dem Stil. Oder umgekehrt: Wer nicht bereut, wird bestraft.«
Die Kollegen hörten gebannt zu.
»Wir wollten uns doch um die Gemeinsamkeiten der beiden Fälle kümmern.
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