Erntedank
änderte sich schlagartig, als er eine vertraute Stimme hinter sich hörte.
»Na so was, da geht man nischtsahnend ins Bad und wer sitzt da
– der Chef.«
Er wusste schon, bevor er sich umdrehte, dass es Sandy Henske war, die sich offenbar sehr freute, dem Kommissar privat zu begegnen. Ihm allerdings war die Situation entschieden zu privat und er hoffte, Fräulein Henske würde es bei einem Gruß belassen und sich nicht länger aufhalten oder sich gar zu ihm setzen.
»Isch darf misch doch zu Ihnen setzen?«, sagte Sandy und schnappte sich einen der Plastikstühle, ohne die Antwort auf ihre Frage abzuwarten.
»Eh schon wurscht«, brummte der Kommissar mehr zu sich selbst.
Nun sollte er also auch noch ein ungezwungenes Gespräch mit seiner jungen Sekretärin führen – und das praktisch nackt.
»Und, dun se schon feiern?«
»Hm?«
»Na, weschen dem Täter. Den ham Sie doch heude erwischt.«
»Mutmaßlicher Täter, Fräulein Henske. Erst wenn er verurteilt ist, ist es der Täter.«
»Na, jetz sei’n se mal nisch so kleinlisch. Wird er schon sein, nöwa?«
Kluftinger war überrascht, dass sie privat einen noch stärkeren sächsischen Dialekt sprach als im Büro.
»Isch wees noch jemand, der sisch da drüber freut«, sagte sie dann und fing plötzlich an zu winken. Kluftinger folgte ihrem Blick und sah Langhammers, seine Frau und den Staatsanwalt auf sich zukommen. Er wurde wieder etwas nervös und stand auf, wobei die Haut seiner Schenkel, die an dem billigen Plastik des Stuhls regelrecht festgeklebt war, ein schmatzendes Geräusch machte.
Er ging gleich einen Schritt auf den Staatsanwalt zu, um ihm die Sache von vorhin zu erklären. Doch der nahm gar keine Notiz von ihm, ging am Kommissar vorbei, beugte sich von hinten über Sandra Henske und küsste sie auf den Mund.
Jetzt war Kluftinger baff.
»Ich … hatte … wusste ja nicht … «, stammelte er.
Die Dinge waren eben nicht immer das, was sie auf den ersten Blick zu sein schienen. Den Satz gab er in Weiterbildungsseminaren gerne jungen Kollegen mit auf den Weg.
***
Als Kluftinger zu Hause seine nassen Socken auszog – irgendein Witzbold hatte es lustig gefunden, die Haferlschuhe unter der Dusche zu platzieren und das Wasser anzustellen – hatte er das Gefühl, einen unendlich anstrengenden Tag gemeistert zu haben. Der letzte Satz des Doktors kam ihm noch einmal ins Gedächtnis. Vor dem Bad hatte er noch einmal sein Fenster heruntergekurbelt und Kluftinger zugerufen: »Man fühlt sich wie ein neuer Mensch.« Er hatte zwar genickt, tatsächlich aber fühlte er sich alt. Mindestens so alt wie sein Vater.
Ihr Bienlein ziehet aus dem Feld,
Man bricht euch ab das Honigzelt,
Die Bronnen der Wonnen,
Die Augen, die Sonnen,
Der Erdsterne Wunder,
Sie sinken jetzt unter,
All in den Erntekranz hinein,
Hüte dich schöns Blümelein!
»Wie – ein Gedicht?« Kluftinger verstand nicht, was Maier ihm sagen wollte. Er befürchtete sogar kurzzeitig, dass der als literaturbewandert geltende Kollege einige Verse zum Besten geben wollte, schließlich war Samstag und da lief im Kommissariat sowieso vieles anders: Die Kollegen ließen sich dann normalerweise Brotzeit liefern oder holten sich Pizza und sie hatten manchmal das Gefühl, gemeinsam in einem Ferienlager zu sein.
»Haben wir gefunden. Bei den Sachen.«
»Welchen Sachen?«
»Na, denen von der Heiligenfeld. Sag mal, hörst du mir eigentlich überhaupt nicht zu?«
Damit hatte Maier den Nagel auf den Kopf getroffen. Kluftinger war noch damit beschäftigt, den Blick, den ihm Sandy gerade beim Hereinkommen zugeworfen hatte, zu deuten. Für gewöhnlich grüßte sie ihn freundlich und kniff nicht wie eben verschwörerisch ein Auge zu. Er hoffte, sie würde nicht meinen, dass sie sich näher standen, nur weil sie nun ein paar unvorteilhafte körperliche Merkmale des anderen aus eigener Anschauung kannten. Vielleicht sollte es auch bedeuten, dass er Hefele nichts davon erzählen sollte. Der würde von den Neuigkeiten aus dem Liebesleben der Sekretärin ganz schön geknickt sein.
»Also, was ist das jetzt für ein Gedicht?«
»Du wirst staunen. Hör einmal zu: ›Es ist ein Schnitter, der heißt Tod, Er mäht das Korn, wenn’s Gott gebot, Schon wetzt er die Sense … ‹«
Als Kluftinger das Wort »Sense« hörte, riss er Maier das Papier aus der Hand und las selbst. Bei jeder weiteren Zeile wurde er blasser. Bei der letzten saß er zusammengesunken hinter seinem Schreibtisch und
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