Erntedank
starrte auf das Blatt vor ihm. Darunter standen nur ein paar Zahlen. Die gleiche kryptische Kombination, die sie in der Handtasche der Heiligenfeld gefunden hatten.
»Und das war bei ihren Sachen?«
»Bei ihren Sachen, ja. In einem Brief.«
Kluftinger dachte nach. Plötzlich hellte sich seine Miene auf.
»Die Spurensicherung … «
» … hat nichts gefunden. Keine Fingerabdrücke drauf außer denen von Frau Heiligenfeld.«
Kluftingers Mundwinkel sanken wieder.
»Immerhin, damit ist wohl einiges klar.«
»Was meinst du?«
»Na, ein Brief, auf dem die Fingerabdrücke des Absenders nicht drauf sind – so was gibt’s doch eigentlich gar nicht. Außer, jemand will nicht, dass sie drauf sind. Es kommt also eigentlich nur eine Person in Frage, die das geschrieben haben könnte, vor allem wenn man die Sache mit der Sense bedenkt.«
»Der Mörder. Aber das ist eh klar.«
»Warum ist das klar?«
»Na, weil die Zeichen auch wieder drauf sind.«
»Aber warum schreibt er seinem Opfer vorher so ein Gedicht?«
Die beiden blickten sich an und zogen die Augenbrauen hoch.
»Um sie zu warnen wohl kaum«, vermutete Maier. »Dazu ist es zu unklar. Laut Poststempel datiert der Brief nur wenige Tage vor ihrem Tod. Aber sie hat ihr Verhalten in der Zeit nach unseren Erkenntnissen nicht geändert. Bedroht hat sie sich also nicht gefühlt.«
»Oder nicht mehr als sonst«, fügte Kluftinger hinzu.
»Wie meinst du das jetzt?«
»Immerhin wissen wir ja, dass sie seit dieser Abtreibungssache schon ein paar Mal bedroht worden ist.«
»Ach so, ja. Meinst du, es hat mit der Abtreibungssache gar nichts zu tun?«
»Doch, ich denke schon. Und die Sage soll uns auf die richtige Spur führen.«
»Also, ehrlich gesagt, das hab ich immer noch nicht so restlos verstanden. Hatte auch wenig Zeit, mich die letzten Tage darum zu kümmern.«
»Ja, das ging uns ja allen so. Aber noch was zu dem Gedicht: Ist das vom Mörder selbst verfasst oder gibt es das wirklich? Es klingt so altertümlich.«
Maier zuckte mit den Schultern.
»Ich kenn mich zwar mit Theaterstücken und Literatur ein bisschen aus, aber von dem Gedicht hab ich noch nie was gehört.«
»Also selbst gedichtet.«
Kluftingers Kollege fühlte sich geschmeichelt, dass sein Chef diesen Schluss zog, wandte aber ein: »Das wollte ich damit nicht sagen. Ich meine: Ich kenne es nicht. Muss aber nichts heißen.«
Kluftinger nickte, ging zur Tür und Maier hörte, wie er Sandy Henske in ungewohnt geschäftsmäßigem Ton anwies, bezüglich des Gedichtes ein bisschen im Internet zu recherchieren. Eigentlich war dies gar nicht die Aufgabe einer Sekretärin, aber erstens war sie immer sehr enthusiastisch, wenn sie mit Aufgaben betraut wurde, die eigentlich zur Ermittlungsarbeit gehörten. Und zweitens traute er ihr am meisten Computerkompetenz zu.
Als er sich wieder an seinen Schreibtisch gesetzt hatte, fuhr er fort: »Jetzt zu den Sagen: Das mit dem Racheteu … mit dem Racheengel haben wir ja schon angesprochen. Wenn wir davon ausgehen, dass der Mörder wirklich ein ›Rächer‹ ist und er uns mit den Hinweisen etwas sagen will, liegt es ja nahe, dass er uns mit den Sagen auch deutlich machen will, warum die beiden dran glauben mussten. Nehmen wir also die Heiligenfeld: In der Sage geht es um eine Frau, die bereit war, ihre eigenen Kinder umbringen zu lassen. Es liegt auf der Hand, was das mit der Ärztin zu tun hat: Sie hat illegal – oder sagen wir halblegal – Abtreibungen vorgenommen. Wer immer für ihren Tod verantwortlich ist, war offenbar der Meinung, dass sie vor Gericht zu gut abgeschnitten hat. Wobei die Frau in der Sage besser wegkommt als die Heiligenfeld. Aber so wörtlich ist das wohl nicht zu nehmen. Meiner Meinung nach sind die Sagen einfach ein Anhaltspunkt, der nötige Hinweis, warum sie sterben musste.«
»Und Sutter?«
»Ja, bei Sutter habe ich mich etwas schwerer getan, aber auch das liegt letztlich auf der Hand. Der Mörder hat in ihm wohl so etwas wie einen modernen Raubritter gesehen. Einen, der alte Frauen ausnimmt und so. Und wie Raubritter enden, das sieht man ja in der Sage.«
Die Tür ging auf und Strobl und Hefele kamen herein.
»Was ist denn mit der los?«, fragte Eugen Strobl und deutete auf die Tür.
»Mit wem?«, wollte Kluftinger wissen.
»Na, mit Sandy. Wir haben sie nur gebeten, einen Anruf für uns zu erledigen, da hat sie gemeint, das geht nicht, weil sie mit einer wichtigen Ermittlungsarbeit betraut ist. Die ist doch
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