Erntedank
entschloss sich Kluftinger, das Gespräch entgegenzunehmen.
»Hallo?«
»Herr Kluftinger, Gott sei Dank. Bitte, Sie müssen sofort kommen.«
Er braucht einen Moment, um die Stimme zu identifizieren. Es war nicht die seines Vorgesetzten, wie er erwartet hatte. Außerdem klang sie seltsam gebrochen, irgendwie atemlos. Kein Zweifel: Es war die Stimme des Staatsanwalts Dieter Möbius.
»Herr Möbius, was ist los? Was gibt es?«
»Bitte Herr Kluftinger, kommen Sie sofort ins Büro. Es ist etwas … etwas Fürchterliches passiert.«
Kluftinger schluckte. Möbius kämpfte hörbar mit den Tränen.
»Ich bin sofort da«, antwortete er deshalb kurz entschlossen.
Als er das Handy wieder in seine Jacke gleiten ließ, blickte er in vier fragende Gesichter. Sogar der Hund schien das Gespräch aufmerksam verfolgt zu haben.
»Wir müssen leider sofort gehen. Entschuldigen Sie die Störung.«
Dann nickte er Strobl zu, machte auf dem Absatz kehrt und eilte zur Tür.
Als er den Wagen wendete, bemerkte der Kommissar, dass das Richterehepaar nicht an die Tür gekommen war, die noch immer offen stand. Dann gab er Gas.
»Vorsicht!«, schrie Strobl im selben Moment aus vollem Hals, aber Kluftinger hatte schon reagiert. Mit einem Knirschen fraßen sich die Reifen in den Kies.
»Kreuzkruzifix, des war knapp!«, keuchte Kluftinger.
Ein weißer Ford Escort Kastenwagen war in dem Moment auf den Hof eingebogen, in dem sie hinausfahren wollten. Die Autos waren nur wenige Meter voneinander entfernt zum Stehen gekommen. Trotzdem konnte Kluftinger den Fahrer des anderen PKW nicht identifizieren. Die Sonne schien direkt auf dessen Windschutzscheibe und blendete ihn. Dennoch meinte er, die schemenhafte Gestalt hinter dem Steuer zu kennen.
»Wer war jetzt des?«, fragte der Kommissar, als sie schließlich auf der Straße mit weit mehr als hundertfünfzig Sachen und einem Magnet-Blaulicht auf dem Dach in Richtung Kempten rasten.
»Vielleicht der Sohn. Vom Alter her könnt’s hinkommen«, vermutete Strobl.
»Irgendwoher kenn ich den. Ich … «
»Würdest du mir jetzt vielleicht mal sagen, warum wir hier so durch die Gegend rasen?«, unterbrach Strobl seinen Gedankengang.
»Wenn ich das bloß wüsste, Eugen. Wenn ich das bloß wüsste … «
***
In seinem Büro bot sich Kluftinger ein seltsames Bild: Staatsanwalt Möbius saß vor dem Schreibtisch, den Kopf hatte er in die Hände gestützt. Er schluchzte leise, während Sandra Henske, die hinter ihm stand, ihm tröstend über den Kopf strich. Lodenbacher stand in einer Ecke des Raumes und machte ein betroffenes Gesicht. Er schien sehr nervös. Als er Kluftinger und Strobl sah, lief er ihnen aufgeregt entgegen.
»Kluftinga, stoin S’ Eahna voar, da Bruada ist vaschwundn und jetzt hod sei Frau den Briaf gfundn. Jetzt miass ma wos dua. Homm S’ wos rausgfundn?«, sprudelte er in tiefstem Niederbayerisch hervor. Kluftinger wurde aus den spärlichen Informationen seines Chefs nicht schlau. Er bat ihn, den Sachverhalt in Ruhe darzulegen.
Lodenbacher atmete ein paar Mal tief durch und setzte dann erneut an: Herr Möbius habe heute Morgen einen Anruf von seiner Schwägerin bekommen. Sie sei in Sorge gewesen, weil ihr Mann nicht vom Joggen zurückgekommen war. Also habe sie ihren Schwager angerufen und zusammen hätten sie ihn gesucht – ohne Ergebnis.
»Dieter ist die ganze Strecke abgelaufen: nischt!«, schaltete sich nun Sandy ein. »Er hat aber das Fahrrad seines Bruders im Graben gefunden, stellen Sie sich vor!«
Lodenbacher überließ ihr kommentarlos das Wort. »Und zu Hause ham sie den Brief hier gefunden – is das nich schrecklisch?«
Sandy reichte Kluftinger ein Blatt Papier. Eine dunkle Ahnung stieg in dem Kommissar auf. Und tatsächlich, der Brief sah sehr vertraut aus: oben stand eine Zahlenkombination, darunter das Brentano-Gedicht, diesmal die ersten drei Strophen.
Er ging um seinen Schreibtisch herum und setzte sich.
»Damit hat sich Brentano als Täter wohl gerade eben erledigt«, sagte er leise.
»Sunst homm S’ koane Sorgn? Mia miassn den Vermisstn findn!«, warf Lodenbacher hysterisch ein. Auch Sandy sah ihn herausfordernd an. Nur Dr. Möbius saß noch immer teilnahmslos und zusammengesunken vor ihm.
»Ich weiß Herr Lodenbacher, ich weiß! Eins nach dem anderen!«, brummte Kluftinger zurück. Er wusste, dass für manche Menschen seine Gelassenheit in bestimmten Momenten geradezu als Provokation erschien, aber in verzwickten Situationen war es
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