Erntedank
blieb wie versteinert. Lange betrachtete er das Foto, bis er schließlich sagte: »Unser alter Freund. Wo man den nicht überall antrifft.«
»Können Sie sich vorstellen, warum der Mörder das zurückgelassen hat? Oder was die Zahlen auf der Rückseite bedeuten?«
Pater Odilo drehte das Foto um und studierte einige Minuten lang die Ziffernkombination. Kluftinger wagte nicht, ihn in seinen Überlegungen zu stören. Mit zunehmender Dauer wuchs außerdem seine Hoffnung, der Geistliche könnte ihm tatsächlich weiterhelfen. Eine kurze Zeit war nur ihr Atem und das Summen des alten Mannes zu hören, der irgendeine Liedzeile unaufhörlich wiederholte.
»Es tut mir leid«, lautete schließlich die Antwort, und der Pater gab dem enttäuschten Kluftinger das Foto zurück.
Wieder öffnete sich die Türe und Erika betrat den Raum.
»Da bist du ja, ich hab mir schon Sorgen gemacht«, sagte sie mit einem vorwurfsvollen Blick, den sie jedoch schnell in ein Lächeln verwandelte, als sie den Pater neben ihrem Gatten sah.
»Pater Odilo, meine Frau«, stellte Kluftinger die beiden vor.
»Was war denn los, warum … «
Kluftinger ließ sie gar nicht erst ausreden: »Würdest du uns bitte noch einen Moment entschuldigen? Du kannst dir ja das Gestühl noch mal in Ruhe anschauen.«
Irritiert vom bestimmten Ton ihres Mannes wagte Erika nicht, ihm zu widersprechen.
»Ich … also, ich kann doch auf Ihr Beichtgeheimnis vertrauen?«, druckste der Kommissar herum, nachdem sich Erika einige Meter entfernt hatte.
»Selbstredend. Homo sum, humani nihil a me alienum puto, auch wenn ich nicht weiß, was das mit dem Beichtgeheimnis zu tun haben soll. Außer, Sie wollen mir sagen, dass Sie der Mörder waren?«
Kluftinger ging gar nicht auf die Bemerkung ein und fuhr fort: »Die Leiche lag in einem Bach, bei Waltrams. Das ist in der Nähe von … «
» … von Weitnau, ich weiß. Ich komme aus der Gegend.«
»Um so besser. Also: Die Frau lag da, ihre Kehle war durchschnitten, und auf ihrer Stirn war etwas eingeritzt. Eine Zahl: die Elf.«
Während er dies sagte, blickte der Kommissar immer wieder zu dem Alten, der mit seinem Staubwedel schon gefährlich dicht an die beiden herangerückt war. Zwar hatte er aufgehört zu summen, aber nun nuschelte er ohne Unterlass etwas vor sich hin. Gleich daneben stand Erika und beugte sich gerade über eine Schnitzerei.
Der Pater zeigte nun zum ersten Mal während des ganzen Gesprächs eine Reaktion: Er zog eine silbergraue Augenbraue nach oben und sagte leise: »Nein, leider. Damit kann ich gar nichts anfangen.«
Kluftinger ließ die Schultern hängen. Etwas mehr hatte er sich von seinem Besuch schon erhofft; nun war er nicht viel klüger als gestern Abend.
»Und wenn Sie vielleicht noch einmal etwas genauer nachdenken? Irgendein Zusammenhang vielleicht … «
Zu der einen hochgezogenen Augenbraue des Paters gesellte sich die zweite: »Hören Sie, mein Verstand arbeitet sehr schnell, auch wenn es vielleicht nicht so aussieht. Wie bei Ihnen, so vermute ich jedenfalls.«
Kluftinger fühlte sich ein wenig geschmeichelt und außerdem gut getroffen. Tatsächlich hatte er manchmal den Eindruck, dass ihn die Menschen für unterdurchschnittlich intelligent hielten. Was seine Kontakte zu verdächtigen Personen anbetraf, konnte das seiner Ansicht nach auch gerne so bleiben.
»Natürlich, sicher, ich wollte das nicht … Vielen Dank, Pater Odilo. Es ist eine heikle Sache, ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür.«
»Natürlich. Ich wünsche Ihnen viel Glück.« Mit diesen Worten drehte sich der Mönch um und ging zur Tür. Als er sie schon geöffnet hatte, wandte er sich noch einmal um: »Versuchen Sie es doch einmal mit einem Gebet. Das hat schon manchen geholfen. Ora et labora, Sie wissen schon.« Dann war er verschwunden.
Kluftinger drehte sich um und zuckte zusammen, weil der Alte nur mehr eine Handbreit vor seinem Gesicht stand und grinste.
Der Kommissar mochte es gar nicht, wenn ihm Menschen zu nahe kamen. Es gab gewisse Individualdistanzen, die man nicht unterschritt.
»Erika, kommst du?«, rief er ungeduldig seiner Frau zu, nachdem er ein paar Schritte zurückgewichen war. »Ich bin hier fertig.«
***
Rund zehn wortlose Minuten später saßen sie im Gasthaus Engel, das gleich neben der Klostermauer lag. Kluftinger fand es amüsant, dass sich die Nähe zur Bruderschaft offenbar in einem so spirituellen Namen niedergeschlagen hatte. In der rustikalen Gaststube herrschte reger
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