Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erntedank

Erntedank

Titel: Erntedank Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Michael; Klüpfel Kobr
Vom Netzwerk:
gelangweilten Gesichtsausdruck. Jetzt platzte Kluftinger der Kragen. Er zog seinen Ausweis, klatschte ihn mit solcher Wucht gegen die Scheibe, dass die Frau im Kassenhäuschen einen Satz machte, und schrie dann so laut, dass es ohne Mikrofon noch bis in den letzten Winkel der Kartause hörbar war: »Ich bin von der Kriminalpolizei. Ich will sofort Ihren Hausmeister sprechen. Sofort, hören Sie?«
    Die Frau war von Kluftingers Ausbruch so eingeschüchtert, dass sie ihm beinahe schon wieder Leid tat.
    »Im Zellentrakt. Er ist bestimmt im Zellentrakt, gleich rechts um die Ecke«, rief sie nun etwas hysterisch so laut, dass auch sie keinen Lautsprecher mehr benötigte. Kluftinger lief in die gewiesene Richtung. Vor ihm lag ein etwa fünfzig Meter langer Gang, alle paar Meter waren hölzerne Türen in der Wand angebracht. Er klopfte an die erste und trat, als niemand antwortete, einfach in das Zimmer ein. Es war karg eingerichtet, nur ein Stuhl, ein Tisch, ein Bett und ein hellgrüner, hölzerner Kasten, der bis unter die Zimmerdecke reichte. Darin befand sich auf der einen Seite eine Bank, auf der gegenüberliegenden ein kleiner Altar mit zwei Kerzen und einem Kruzifix. Ein Durchgang führte in den Garten, der durch Mauern von den anderen Gärten abgeschirmt war. In diesem kleinen Gang war eine kleine, altertümliche Tischlerwerkstatt mit einer kleinen Hobelbank und allerlei Werkzeug. Das ärmliche Zimmer, für das er den Begriff »Zelle« recht treffend fand, wirkte bedrückend auf ihn. Auch deswegen beeilte er sich, wieder hinauszugehen.
    Die nächsten Räume, die er betrat, glichen aufs Haar dem ersten. Er konnte sich nicht vorstellen, wie hier früher Menschen in absoluter Stille hatten leben können, ohne Fernsehen, ohne Radio, nur mit sich und Gott. Es nötigte ihm einen gewissen Respekt ab, doch vor allem verstand er nicht, wie man sich für ein derartiges Leben entscheiden konnte. Auch wenn man dafür quasi ein eigenes Appartement mit Garten mietfrei zur Verfügung hatte, was im Vergleich zu anderen Klöstern der damaligen Zeit durchaus fortschrittlich gewesen war. Bei der achten Türe bekam Kluftinger plötzlich Antwort auf sein Klopfen.
    »Herein, nur herein«, schnarrte eine heisere Stimme aus dem Inneren.
    Als er die Türe aufgestoßen hatte, war Kluftinger zunächst irritiert, weil die Zelle etwas anders aussah als die, die er bisher gesehen hatte: Zwar war sie genauso groß und hatte auch die gleichen Möbel, allerdings war etwa der Tisch mit einer Decke versehen, ein Radio lief, auf dem Fensterbrett standen Blumen, ein kleines Bücherregal stand neben dem Bett, an der Wand hing ein Gemälde mit einer Allgäuer Landschaft und den Boden zierte ein Teppich. Sogar einen Kühlschrank, auf dem eine kleine Kochplatte stand, entdeckte der Kommissar.
    An dem Tischchen saß der alte Mann mit dem kleinen Buckel, der ihm vorher in der Kapelle begegnet war. Er grinste den Kommissar an und sagte: »Setzen. Nur hersetzen. Setzen, setzen.«
    Kluftinger folgte seiner Aufforderung und stellte sich vor. Ohne Umschweife kam er zur Sache: »Sie haben da vorhin etwas gesagt, beim Chorgestühl. Etwas über eine Zahl. Elf. Und dass es natürlich elf sind … «
    »Ja ja, elf. Natürlich elf. Wie in der Sage: elf«, grinste der Alte und begann, glucksend zu lachen.
    »Können Sie mir das erklären?«
    Der Alte grinste weiter, ohne eine Antwort zu geben.
    »Ich meine: Was wollten Sie denn damit sagen?« Kluftinger sprach unwillkürlich etwas lauter und langsamer, was er öfter tat, wenn er mit älteren Menschen zu tun hatte.
    »Wie in der Sage, wollt ich sagen. In der Sage, der Sage.«
    Langsam fand der Kommissar die Marotte des Männleins, alles zu wiederholen, reichlich nervtötend. Das also passiert, wenn man ein paar Jahre zu lang in einer dieser Zellen sitzt, dachte er sich.
    »Welche Sage?«
    »Waltrams. Sie haben doch Waltrams g’sagt. Waltrams, natürlich. ›Die Zwölf Knaben‹, natürlich. Sicher, sicher.«
    Kluftinger blickte Hilfe suchend auf das Kruzifix. Er war bereit, auf der Stelle ein Stoßgebet zu sprechen, wenn der Alte nur etwas weniger in Rätseln sprechen würde. Er vermutete, dass ein ähnlich forsches Auftreten wie bei der Kassiererin hier nur wenig gebracht hätte. Deswegen blieb er weiter freundlich.
    »Ja? Waltrams. Was ist mit Waltrams?«
    »Sie haben’s ja selbst gesagt. Elf Knaben sind weggekommen, von zwölf. Elf Knaben. Der Zwölfte war noch da.« Mit diesen Worten erhob sich der Alte.

Weitere Kostenlose Bücher