Erntedank
Anspruch genommen hat. Die ganze Renovierung hat zwei Millionen Mark gekostet, so viel, wie man aufbringen musste, um das ganze Gestühl von den Engländern zu kaufen. Aber es hat sich ja gelohnt, wie Sie sehen.«
Kluftinger, der sonst im Angesicht knapper Kassen schnell bereit war, Sparmaßnahmen bei der Kultur das Wort zu reden, bestätigte ihren letzten Satz mit einem Nicken. »So was kann man ja heutzutage gar nicht mehr bauen«, flüsterte er seiner Frau ins Ohr.
»So, wenn Sie mir jetzt bitte folgen«, sagte Frau Häberle und verließ den Raum. Doch die Wenigsten schienen ihrer Aufforderung nachkommen zu wollen. Kameras wurden gezückt, in allen möglichen Körperhaltungen fotografierten die Mitglieder der Gruppe das Chorgestühl. Einer kniete sich sogar vor den Kopf eines Engelchens, was wie ein Gebet anmutete. Wahrscheinlich ein Flehen um Gnade für die Beleidigung, einen so ehrwürdigen Raum mit einem rosafarbenen Regencape zu entweihen, dachte der Kommissar bei sich.
Das muntere Treiben löste sich allerdings schnell auf, als die Stimme der Frau mit dem Prospekt blechern in die geschäftige Stille tönte, man solle doch jetzt endlich Frau Heberlein folgen, später gebe es noch Gelegenheit, Ansichtskarten des Gestühls bei ihr im Bus zu erwerben. Etwa dreißig Sekunden später war der Raum leer. Nur Kluftinger blieb zurück. Jetzt wirkte die Schnitzarbeit noch gewaltiger als mit den ganzen Menschen drumherum. Der Kommissar versuchte sich vorzustellen, wie es gewesen sein mochte, als noch Mönche in braunen Kutten auf den Bänken saßen. In seinem Kopf stimmten sie bereits gregorianische Choräle an, als eine tiefe Stimme in seinem Rücken ihn zusammenzucken ließ.
»Haben Sie Ihre Gruppe verloren?«
Als er sich umdrehte, blickte er in zwei wache, wasserblaue Augen.
Sie gehörten zu einem großen, etwa siebzigjährigen Mann in dunkler Kleidung. Sein Gesicht in Kombination mit seiner volltönenden Bassstimme wirkte fast fürchteinflößend: Es war hager, die Wangen waren eingefallen, um die Augen lagen tiefe Schatten. Das graue Haar stand kurz geschnitten von seinem Kopf ab, das Kinn zierte ein exakt ausgeschnittener, silbrig glänzender Bart. Um den Hals hing ein kleines, hölzernes Kruzifix. Irgendetwas sagte Kluftinger sofort, dass dieser Mann hierher gehörte, kein Tourist war, der sich verlaufen hatte.
»Ich bin Pater Odilo«, bestätigte der Mann vor ihm seine Vermutung. Der Kommissar war sofort von dem Anblick des Mönches fasziniert; alles in diesem Raum strahlte einen der Zeit entrückten, morbiden Charme aus, auch Pater Odilo.
Als ihm bewusst wurde, dass er den Mönch anstarrte, räusperte sich der Kommissar, lächelte und neigte seinen Kopf zur Begrüßung: »Gestatten: Kluftinger mein Name. Ich bin noch ein bisschen hier geblieben, weil mir diese Figur hier so gefällt.«
Der Kommissar zeigte auf die Schnitzerei hinter ihnen.
»Der Bußfertige Sünder! Ja, diese Figur zieht viele in ihren Bann.«
Der Kommissar war irritiert, weil der Ordensbruder sich bei seinen Worten nicht umdrehte. Er traute sich jedoch nicht zu fragen, woher er gewusst hatte, welche Figur gemeint war. Seine Ehrfurcht wuchs – und mit ihr auch sein Unbehagen.
»Wieso?«, fragte Kluftinger leise.
»Nun«, sagte der Geistliche, drehte sich um und legte der Figur seine Hand auf den Kopf, »vielleicht liegt es an der Geschichte, die sich dahinter verbirgt. Auch wenn sie die meisten Menschen nicht kennen, scheint sie sich doch irgendwie zu vermitteln.« Bei diesen Worten strich er sanft die Konturen der Schnitzerei mit seinen langen, feingliedrigen Fingern nach. Dabei flüsterte er ein paar Worte, die Kluftinger nicht verstand.
Gespannt wartete der Kommissar darauf, dass der Mönch die Geschichte erzählen würde. Und nach einer kurzen, selbstversunkenen Pause fing er tatsächlich an zu reden. Die Worte, die er dabei benutzte, ließen einen überaus gebildeten Menschen erkennen und Kluftingers Respekt weiter wachsen.
»Das Chorgestühl ist im Jahr 1691 fertig gestellt worden, wie Sie ja sicher gerade gehört haben«, hob er an, ohne den Kommissar dabei anzusehen. »Nun, es war zwar nicht mehr weit bis zur Aufklärung, aber hier, in der Abgeschiedenheit der Provinz, war das Leben noch geprägt durch barocke Mythen und Sagen. Dunkle Mächte trieben hier ihr Unwesen – jedenfalls in der Vorstellung der Menschen. Von Kants ›Sapere aude‹, seiner Aufforderung, es ruhig auch einmal mit dem Verstand zu versuchen,
Weitere Kostenlose Bücher