Erntedank
Kluftinger dachte schon, er wolle das Gespräch beenden, da sah er, dass er etwas aus dem Bücherregal holte. Es war ein Kistchen, das er unter dem Arm zum Tisch trug, dort abstellte und langsam öffnete. Unzählige bedruckte Papiere kamen zum Vorschein. Mit seinen krummen Fingern kramte der Alte darin herum und fischte schließlich eines heraus, das er dem Kommissar reichte. Dabei zeigte er wieder grinsend seine Zahnstummel: »Waltrams, freilich, freilich.«
Das Papier in Kluftingers Händen war leicht vergilbt, in Frakturschrift stand darauf: » Die Zwölf Knaben «. Gespannt begann der Kommissar zu lesen.
Was er las, ließ seinen Mund trocken und seine Wangen heiß werden. » Zu einer Zeit vor vielen hundert Jahren … « begann die Geschichte. Die Buchstaben formten sich vor seinem geistigen Auge zu Bildern, die sich in sein Gedächtnis einbrannten. Er sah ein altes Weiblein, das bei den Edelleuten von Humpiß um eine milde Gabe für seine hungernden Kinder bat. Die hartherzige Frau des Hauses wies sie jedoch schroff mit dem Argument ab, sie hätte eben nicht so viele Kinder in die Welt setzen sollen. Daraufhin verfluchte die Alte sie: Zwölf Knaben sollte sie gebären.
Der Fluch trat ein und mit ihm kam die Furcht der Frau, ihr Gatte würde sie wegen so vieler Kinder der Untreue zeihen. Wenig zimperlich wies sie deswegen ihre Magd an, elf Knaben in einem Korb zum Weidenbach hinauszutragen und zu ertränken. Doch auf dem Weg dorthin begegnete sie dem Hausherrn, dem sie erst erzählte, dass sie Hunde in ihrem Weidenkorb habe, was dieser ihr aber nicht glaubte. Schließlich fand er die schreckliche Wahrheit heraus. Er war entsetzt ob der Grausamkeit seiner Frau und brachte die Kinder an einen sicheren Ort, wo sie unbemerkt aufwuchsen. Zwölf Jahre später fragte er seine Gattin, welche Strafe wohl eine Mutter verdiene, die ihre Kinder umgebracht hat. »Den Tod«, war ihre Antwort. Und mit dem Satz: »So hast du dir selbst dein Urteil gesprochen« öffnete sich eine Türe und elf Knaben stürmten herein. Die Geschichte endete mit den Worten: » In dem Wappen der Humpiß finden sich bis heute noch eine Anzahl Hunde. «
Kluftinger senkte das Blatt, das in seinen Fingern zitterte. Er war aufgewühlt und auch ein wenig schockiert. Nicht wegen der Tatsache, die die alte Sage berichtete. Es war einer der ersten Sätze, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ: » Die Ahnen des Edelmannes «, stand da, » stammten aus dem Württembergischen und hatten sich in Waltrams bei Weitnau niedergelassen. «
Er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Einerseits war er erregt, weil er fühlte, dass er der Lösung des Geheimnisses ganz nahe gekommen war. Andererseits schauderte ihn bei dem Gedanken, wie mystisch der Fall zusehends wurde.
Er blickte den Buckligen an, der ihn die ganze Zeit angegrinst hatte und jetzt wie auf Stichwort sagte: »Jaja, alles klar, alles klar.«
Kluftinger überlegte einen kurzen Moment, ob er ihm auch vom ersten Mord erzählen sollte, entschied sich aber dagegen. Er wusste nicht, wie viel der Alte von dem, was um ihn herum vorging, wirklich mitbekam und wie sorglos er eventuell mit sensiblen Informationen umgehen würde. Dennoch wollte er die Chance, die sich ihm hier bot, nutzen.
»Haben Sie schon mal etwas von Rappenscheuchen gehört?«, fragte er deshalb.
Das Grinsen aus dem Gesicht seines Gegenüber verschwand. Der Alte überlegte lange, kratzte sich dabei sein stoppeliges Kinn und sagte schließlich ein wenig enttäuscht: »Nein, nein. Schade, schade, leider. Sehr schade.«
Damit sprach er dem Kommissar aus dem Herzen. Dennoch war er dem Männlein sehr dankbar und versuchte, das auf seine unbeholfene Art auch zu zeigen: »Wenn Sie mal was brauchen, rufen Sie mich an. Kommissar Kluftinger, Kripo Kempten, gell? Auf Wiedersehen.«
»Ja ja, alles klar. Kempten. Alles klar«, erwiderte der Alte und zeigte zum Abschied noch einmal grinsend seine Zahnstummel.
***
Auf dem Weg zurück zum Gasthof überschlugen sich Kluftingers Gedanken. Die Sache war jetzt »heiß«, wie er sich in solchen Fällen auszudrücken pflegte. Die Elf auf der Stirn der Toten, die elf Knaben in der Sage, Waltrams – das alles konnte kein Zufall sein. Das würde vielleicht auch den mysteriösen Leichenfund in Rappenscheuchen erklären. Wenn auch die Zahlenkombinationen nach wie vor rätselhaft blieben. Welches Geheimnis würde sich dahinter verbergen? Kluftinger bekam eine Gänsehaut.
Als er die Tür zur
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