Erntedank
wir wissen ja jetzt, dass es der gleiche Mörder war. Vermutlich gibt’s also auch ein ähnliches Motiv. Irgendwie muss das Ganze ja zusammenhängen. Und nach diesem Bindeglied sollten wir suchen. Ideen?«
Wieder wurde es still im Büro. Keinem fiel auf Anhieb ein Zusammenhang ein, der die beiden Morde erklären würde. Betreten wichen die Kommissare dem Blick ihres Chefs aus.
»Macht ja nix. Hab jetzt auch nicht damit gerechnet, dass uns gleich was einfällt. Das wird Puzzlearbeit, denk ich. Aber etwas muss es geben. Und das werden wir finden. Sagt bitte auch jemand beim Renn Willi Bescheid, dass die auch noch mal genau die Spuren vergleichen?«
Die Zuversicht, die Kluftinger ausstrahlte, färbte auf die Kollegen ab. Zustimmend und voller Tatendrang nickten sie ihm zu.
»Bis es so weit ist, sollten wir uns um die Sagen kümmern«, schlug Strobl vor.
»Genau, Eugen. Die Sagen. Wir wissen jetzt, dass der zweite Mord nach dem Vorbild einer Sage begangen worden ist. Auch wenn uns das natürlich noch immer Rätsel aufgibt. Oder nach dem Motiv einer Sage, besser gesagt. Und da liegt es nur nahe, dass der Mord an Sutter ebenfalls was mit einer Sage zu tun hat. Das würde auch die Krähe und das ganze mysteriöse Zeug erklären.« Kluftinger tat sich nun erheblich leichter, über die rätselhaften Umstände der Morde, vor allem des ersten, zu sprechen. Sie hatten etwas von ihrem Schrecken verloren.
»Ich nehme nicht an, das jemand die Sage kennt, oder?«
Als die Kollegen mit den Köpfen schüttelten, fuhr er fort: »Die Frage lautet also: Wo kriegen wir das raus?«
»Aus Büchern?«, fragte Maier.
»Oder wir fragen jemand, der sich damit auskennt. Heimatpfleger, Stadtarchivar oder so«, ergänzte Strobl.
»Ja, und einen Stadtarchäologen gibt’s ja auch, oder?«, fügte schließlich auch Hefele hinzu.
Kluftinger nickte zufrieden: »Wunderbar. Dann haben wir ja jetzt eine Menge zu tun. Ich kümmere mich um die Bücher, den Rest könnt ihr besorgen. Und geht ins Detail. Selbst wenn der Sutter und die Heiligenfeld mal zusammen im gleichen Aufzug gefahren sind, will ich das wissen.«
***
Schon eine halbe Stunde später stand Kluftinger in der Kemptener Fußgängerzone vor dem Schaufenster seiner »Stamm-Buchhandlung«. Er nannte sie so, auch wenn er nur ein paar Mal im Jahr hineinging – kurz vor Weihnachten und dann vor dem einen oder anderen Geburtstag, meist dem seiner Frau. Er selbst war kein großer Leser, was er bisweilen als Manko empfand, weil er sich dann schrecklich ungebildet vorkam. Wenn er sich aber doch einmal dazu durchrang, ein Buch in Angriff zu nehmen, grämte er sich meist noch mehr darüber, dass er so langsam las, als er sich sonst ärgerte, dass er so wenig belesen war.
Er kannte Menschen – und mit einem lebte er sogar zusammen
– die lesen konnten, ohne dass die Worte in ihrem Kopf »ausgesprochen« wurden. Er selbst dagegen hörte immer eine kleine Stimme, die ihm die Wörter sozusagen vorlas – was bedeutete, dass er nicht schneller war, als wenn er das Buch laut gelesen hätte. Besonders fiel ihm das auf, wenn er und seine Frau abends im Bett gemeinsam schmökerten: Bei ihr raschelte es unentwegt vom dauernden Umblättern der Seiten, während er sich mühsam von Zeile zu Zeile kämpfte. Und einen guten Teil der Zeit verbrachte er damit, das Lesezeichen dort zu platzieren, wo er gerade war, das Buch zuzuklappen und beim Vergleich der beiden Hälften – der gelesenen und der ungelesenen – sich dafür zu loben, dass er doch eigentlich schon sehr weit gekommen war.
Für ihn kamen deswegen auch nur dünne Bücher in Frage, denn dem psychischen Druck, den ein solcher Vergleich etwa bei einem Tausend-Seiten-Werk auslöste, hielt er in der Regel nicht stand und legte das Werk schon nach wenigen Seiten mangels Aussicht, es zu seinen Lebzeiten beenden zu können, wieder weg. Nach außen hin begründete er das dann damit, dass es zu langweilig, zu gewalttätig oder, falls er mit Menschen sprach, die er für belesen hielt, »in der Sprache zu wenig elaboriert und im Inhalt zu ambivalent« sei. Letzteres hatte er einmal in einer Rezension gelesen und der Satz wirkte auf ihn, und, wie er hoffte, auch auf andere so akademisch und kenntnisreich, dass sich Nachfragen von selbst verboten.
Manchmal ließ er sich auch den Inhalt von Erika erzählen. Sie war es in fast allen Fällen ja auch, die ihm ein Buch hingelegte. Dann schwärmte sie ihm davon vor, sagte, er müsse es lesen, es
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