Erntedank
die einzelnen Ziffern ihrer Geburtsjahre addierst, erhältst du immer die gleiche Quersumme: elf.« Richard Maier machte eine kleine Kunstpause und fuhr dann langsam fort, wobei er jedes Wort sehr stark betonte: »Genau wie die Zahl auf ihrer Stirn.«
Kluftinger sah seinen Kollegen mit einer Mischung aus Mitleid und Entsetzen an. Das konnte er doch nicht wirklich ernst gemeint haben, hoffte er. Doch ein Blick in Maiers Gesicht überzeugte ihn vom Gegenteil.
»Na, dann müssen wir ja jetzt nur noch in dem Ordner mit den Elfer-Hassern nachsehen und schon haben wir ihn, nicht wahr? Das kannst du ja übernehmen«, versetzte der Kommissar knapp und ließ seinen Kollegen ratlos an der Treppe zurück.
***
»Da! Da! Und da!« Mit diesen Worten pfefferte Kluftinger seinen Kollegen die Bücher, die er mitgebracht hatte, auf ihre Schreibtische. »Jeder nimmt sich eins vor. Und verteilt die übrigen Exemplare auch an andere Kollegen. Muss ja nicht jeder gleich alles lesen.«
Er selbst hatte sich das dünnste Exemplar einbehalten. Gespannt setzte er sich sofort an seinen Schreibtisch und begann zu lesen. Schon nach wenigen Worten setzte er das Buch wieder ab.
»Kreuzhimmelsakrament«, fluchte er. Ausgerechnet seine Lektüre war in Frakturschrift geschrieben, offenbar das Faksimile eines alten Sagenbuches. Nicht, dass Kluftinger diese Schrift nicht lesen konnte. Aber er war nun einmal ein langsamer Leser und mit der altertümlichen Schrift würde er noch länger brauchen. Außerdem wäre es so viel anstrengender. Er konnte sich zum Beispiel einfach nicht daran gewöhnen, dass die »s« wie ein »f« aussahen. Das führte dazu, dass die Stimme in seinem Kopf oftmals sinnlose Dinge wie »er fteht im Waffer« oder »teilweife wiffe er nicht, wohin« und dergleichen vorlas. Der Kommissar kratzte sich am Kopf, stand dann auf und öffnete die Tür zum Nebenzimmer. Nur Hefele saß an seinem Schreibtisch, die Arbeitsplätze von Strobl und Maier waren leer. Hefele, der ebenfalls über eines der Bücher gebeugt war, sah kurz auf, als ihm der Kommissar aber bedeutete, dass er ruhig weiter lesen könne, senkte er den Kopf wieder.
Kluftinger schlenderte zu Maiers Schreibtisch, sah noch einmal zu Hefele, um dann blitzschnell das Buch, das er vorher auf den Platz seines Kollegen geworfen hatte, gegen seines auszutauschen. Noch einmal vergewisserte er sich, dass seine Handlung unbeobachtet geblieben war, und ging dann mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen zurück in sein Büro. Dort glitt er mit einem Seufzen in seinen Chefsessel, schlug das neue, etwas umfangreichere Buch auf und las die erste Sage – nun in ganz normalen Druckbuchstaben.
Der Titel der Geschichte schien ihm allerdings wenig vielversprechend: »Nächtliche Sau bei Buchenegg« stand dort. Da der Text aber nur eine halbe Seite einnahm, las er weiter.
»Von der Spilzle, einer Flur hinter Buchenegg bei Oberstaufen, hieß es früher immer, es sei da nicht recht geheuer und geiste.« Der Kommissar runzelte die Stirn: Zwar war die Schrift zeitgemäß, die Sprache allerdings schien ihm sehr antiquiert. Er spielte kurz mit dem Gedanken, noch einmal einen Büchertausch vorzunehmen, setzte seine Lektüre dann aber doch fort: »Eines Nachts hörte der alte B. um seinen Hof herum etwas poltern und bemerkte eine ungeheure Sau mit funkelnden Augen, die zu ihm herangesprungen kam. Da faßte der B. einen starken Ast und schlug nach dem Tier, traf dabei aber immer nur den leeren Boden. Plötzlich, bei einem Kreuze, bog die Sau seitwärts ab und verschwand.«
Der Kommissar schüttelte den Kopf. Das sollte eine Sage sein? Noch irritierter war er, als er den letzten Satz der Geschichte las: »Jetzt was ist das gewesen?«
Das fragte sich Kluftinger auch. Was sollte das denn sein? Er hatte unheimliche Berichte über alte Burgen und geheimnisvolle Orte erwartet und jetzt kamen die ihm mit einer »ungeheuren Sau«. Er überblätterte die weiteren Geschichten, die sich um Säue drehten und Titel trugen wie die »Feurige Sau bei Haggen«, ließ zahlreiche weitere nächtliche Säue links liegen und gelangte schließlich zu einer Erzählung, bei der schon die Überschrift ein mulmiges Gefühl in seinem Magen erzeugte: »Das steinerne Kreuz bei Hindelang«.
Zwischen Hindelang und Oberdorf, stand dort, stehe an der Straße ein steinernes Kreuz, in das die Jahreszahl 1555 eingehauen sei. Kluftinger kannte die Gegend und er meinte, sich tatsächlich an ein Kreuz zu erinnern, allerdings war
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