Erntedank
einfach aus dem Ärmel. Er hob gerade zu einem weiteren Lob an, da sagte sein Sohn: »Kannst dir die Luft sparen.«
Mit diesen Worten schob er ihm die Zeitung über den Tisch.
Entsetzt las Kluftinger die Überschrift, auf die Markus’ Finger deutete: »Mörder nimmt Sagen als Vorbild«.
»Wie … « Kluftinger riss die Zeitung an sich und überflog den Artikel. Dann legte er sie ganz langsam zurück, biss die Zähne zusammen und presste nur ein Wort hervor: »Maier!«
»Dein Kollege?«
Der Kommissar nickte. Dann schlug er sich gegen die Stirn. »Ich bin wahrscheinlich selber schuld. Ich hab ihnen aufgetragen, überall anzurufen, um das Sagenmotiv für den ersten Mord rauszufinden. Und Maier kennt doch einen von der Zeitung ganz gut, einen Älteren, der immer so Heimatthemen macht. Vielleicht hatte er … na, der soll mir nur kommen.«
»Beruhig dich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das eurer Arbeit schaden wird, na ja, wenn man vom öffentlichen Interesse und dem Druck, der damit auf eure Arbeit ausgeübt wird, einmal absieht. Aber wir sollten … ich meine: ihr solltet euch auf den Mörder konzentrieren.«
»Du hast Recht«, sagte der Kommissar. Aber Maier würde er sich trotzdem noch zur Brust nehmen.
»Also, wie hilft uns das jetzt weiter?«
»Das mit den Sagen? Na ja, der Mörder transportiert auf eine perverse Art irgendeine Botschaft. Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie die lautet: Er könnte zum Beispiel seine Allmacht einerseits und die Unfähigkeit der Polizei andererseits damit zum Ausdruck bringen wollen, ein klassisches Motiv. Das glaube ich in diesem Fall allerdings nicht. Denn dazu bräuchte er kein so kompliziertes Arrangement. Es würde reichen, wenn er sich ein Markenzeichen zulegt. In den USA hat es das schon des Öfteren gegeben. Wenn Täter etwa immer eine Spielkarte am Tatort zurücklassen, dann sagen sie damit: Ich war schon da und ihr habt mich wieder nicht gekriegt. Ein so aufwändig konstruiertes Gebilde, wie ihr es gefunden habt, passt also nicht in dieses Schema.«
Kluftinger hörte fasziniert zu. Er hatte jahrzehntelange Erfahrung im Polizeidienst, aber so wie sein Sohn zu formulieren, das hätte er nicht fertig gebracht. Bei ihm kam vieles einfach aus dem Bauch, ohne dass er daraus Täterprofile hätte erstellen können. Und sein Bauch sagte ihm auch, dass Markus Recht hatte.
»Sondern?«
»Ich denke, er will, dass ihr den Mord ›lest‹. Es ist eine Art der Kommunikation. Ich … ja, ich glaube, euer Mörder will verstanden werden.«
»Wie bitte?«
»Na, er will, dass ihr eine bestimmte Botschaft, vermutlich über sein Motiv, herausfindet und dann vielleicht zu dem Schluss kommt: Er hat korrekt gehandelt.«
»Korrekt gehandelt? Bei zwei Morden?«
»Nicht aus eurer, aus seiner Sicht. Die musst du dir als Psychologe zu eigen machen. In unserem Seminar war das die erste Prämisse. Ich versuche wie der Täter zu denken.«
Kluftinger nahm einen Schluck Kaffee. Er war lauwarm. Er hatte vergessen zu trinken, weil ihn Markus’ Vortrag so fesselte.
»Also, wenn ich das richtig verstanden habe«, fasste Kluftinger die Gedanken seines Sohnes zusammen, »dann will der Mörder erreichen, dass wir uns mit seiner Tat auseinandersetzen.«
»Genau.«
»Aber warum macht er es dann so kompliziert? Mit den ganzen Sagen? Das hätte er schließlich auch einfacher haben können. Wir hätten das ja auf jeden Fall getan, das muss ihm doch klar sein.«
»Ihr hättet es aus der Sicht eines Polizisten getan. Nach dem Motto: Hatte das Opfer Feinde? Wer hat es zuletzt gesehen und so weiter. Aber jetzt seid ihr gezwungen, die Morde aus einer anderen Sicht zu betrachten – aus seiner.«
Kluftinger schluckte. Natürlich wusste auch er, dass man sich in die Täter hineinversetzen musste. Aber vielleicht tat er das in seiner täglichen Arbeit zu wenig. War er mit den Jahren betriebsblind geworden?
»Ich denke, wenn wir genauer hinschauen, können wir vielleicht etwas mehr daraus lesen, als er uns eigentlich mitteilen wollte«, fuhr Markus fort.
»Und das wäre?«, fragte Kluftinger gespannt, aber skeptisch.
»Nun, wie du gesagt hast, wird er wissen, dass die Polizei sich auf jeden Fall mit der Tat auseinandersetzen muss. Aber das reicht ihm nicht. Das heißt, dass ihr mehr rausfinden sollt, als ihr herausfinden würdet, wenn es ein ganz ›normaler‹ Mord wäre. Also kann man wohl davon ausgehen, dass es sich nicht um ein normales Opfer-Täter-Verhältnis handelt, der Täter
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