Erntedank
flüsterte er. Mit einem Doppelklick öffnete er die Nachricht und begann zu lesen. Wie immer hatte Richard Maier alles klein geschrieben, weil man das im Internet eben so mache, das gehöre zur »Netiquette«, hatte er einmal doziert und keiner hatte danach gefragt, was Netiquette überhaupt sein solle, denn niemand wollte sich vor ihm eine Blöße geben:
»guten morgen, ich hab noch mal über die sache mit den gemeinsamkeiten nachgedacht und folgendes herausgefunden. also: gernot sutter hat seine firma in ursulasried gehabt. und zwar in der porschestraße. und die heiligenfeld hat, als sie noch verheiratet war und ihre praxis gut lief, ebenfalls in der porschestraße gewohnt. in füssen eben. außerdem hat sutter sicher einmal einen porsche gefahren, weil es ein aktenkundiges verkehrsvergehen gibt. könnte uns das weiterbringen? wir sollten, denke ich, auf jeden fall dranbleiben. sicher ist sicher. du musst auf diese nachricht nicht antworten. gruß R.«
Richard Maier unterschrieb seine E-Mails immer mit »R.«, weil er das für ein Markenzeichen hielt, wie er einmal sagte.
Kluftinger seufzte. Die abstrusen Zusammenhänge, die sein Kollege zu Tage förderte, hatten zwar einen gewissen Unterhaltungswert und wären ein gefundenes Fressen für Verschwörungstheoretiker gewesen. Ihnen halfen sie aber nicht weiter. Was hatte er denn bloß Falsches gesagt, dass sich Maier so in die Details verbiss? Was es auch gewesen war: Er wünschte, es wäre nie über seine Lippen gekommen. Das war ja geradezu lächerlich, was der sich da aus den Fingern sog. Jedenfalls wollte er den Notausgang, den Maier ihm in der Nachricht gelassen hatte, auch nutzen und löschte die E-Mail, ohne eine Antwort an den Absender zu schicken. So wäre es für beide wohl am wenigsten peinlich, fand er.
Als er Maier bei der »Morgenlage« traf, verlor keiner ein Wort über die neue Theorie. Ein paar geharnischte Worte wegen seines Anrufes bei der Zeitung, den er ohne Zögern eingestand, musste er allerdings über sich ergehen lassen – was offensichtlich sehr zum Amüsement der Kollegen beitrug. Aber Kluftinger fand, dass sich Maier diesen öffentlichen Rüffel verdient hatte.
Nach der Standpauke trug jeder ein paar Sagen vor, die er am vergangenen Abend gelesen hatte, was Kluftinger ein bisschen vorkam wie in der Schule, wenn die Kinder Inhaltsangaben abliefern mussten. Zum Leidwesen des Kommissars war jedoch keine Sage dabei, die auch nur im Entferntesten etwas mit Rappenscheuchen zu tun hatte. Dafür wurden von den Kollegen bereits Lieblingsgeschichten gekürt. An erster Stelle rangierten die »Pudel-Sagen«. Hefele hatte ein gewisses Talent im Vortrag dieser Geschichten, die alle nach einem ähnlichen Schema konstruiert waren: An bestimmten, meist einsamen oder gefährlichen Stellen eines Ortes wie Brücken oder kleinen Weg-Kapellen, wurden immer wieder Pudel gesichtet, die den Menschen Angst einjagten. Manchmal hatten sie feurige Augen, oder, wie im Fall des »nächtlichen Pudels bei Buchenberg« eine feuerrote Zunge. Oftmals löste sich der Pudel in einer stinkenden Wolke auf.
»Pass nur auf, in Altusried gibt’s fei auch so einen, den Kapellenpudel. Der springt einem auf den Rücken und dann muss man beim Tragen recht schwitzen«, rief Hefele lachend seinem Chef zu und ergänzte: »Na, aber dich wird er schon in Ruhe lassen, wo du doch an deiner Trommel in der Musikkapelle immer so schwer zu tragen hast.«
Die versammelte Gesellschaft lachte. Sein Mitwirken in der Blasmusik und die Klagen über das hohe Gewicht der großen Trommel waren immer wieder gern gewählte Anlässe für die Kollegen, ein bisschen über ihren Chef zu spotten.
Schließlich rissen alle Witze darüber, dass ausgerechnet Pudel – Hunde, die nach einhelliger Meinung der Kollegen zu den eher bemitleidenswerten Lebewesen gehörten – den Menschen Angst eingejagt hatten.
Das Lachen verstummte, als Maier darauf hinwies, dass der Pudel als ein Synonym des Teufels galt und nach wie vor gilt, etwa in Goethes Faust, wo sich Mephisto als Pudel zeige, was zu dem sprichwörtlichen Satz geführt habe: Das also ist des Pudels Kern.
Kluftinger räusperte sich nach Maiers Einlassung und sagte: »Ja, danke, Richard. Das ist ja sehr hilfreich. Hat noch jemand eine interessante Sage auf Lager? Vielleicht mal nichts Pudliges sondern irgendwas Unheimlicheres? Eugen?«
Strobl dachte kurz nach und antwortete: »Ja, also ich hab da eine gelesen, die schon gruslig war. Hinter
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