Erntedank
also mutmaßlich nicht in direktem, engen Kontakt zu seinem Opfer stand, wie es meistens der Fall ist.«
Es fiel dem Kommissar schwer, zu glauben, dass das da vor ihm sein Sohn war. In ein paar Minuten hatte der ihm mehr über den Täter verraten, als er die letzten Tage herauszufinden im Stande gewesen war. Jedenfalls kam es ihm so vor.
»Können wir sonst noch etwas herauslesen?« Kluftinger kam sich vor wie das Publikum eines interessanten Vortrags: aufmerksam-unbeteiligt, zum untätigen Staunen verurteilt.
»Ja, lass uns noch mal einen Schritt weiter gehen. Also, unser Täter scheint der Meinung zu sein, eine Mission zu erfüllen. Eine Mission, die ihr erkennen sollt. Allerdings ist er sich natürlich auch darüber im Klaren, dass ihr versuchen werdet, seine Mission zu durchkreuzen. Das heißt: Einerseits braucht er euch, andererseits muss er vor euch auf der Hut sein. Auch deswegen ist das Ganze so verrätselt, schließlich sollen die Spuren nicht gleich zu ihm führen.«
»Klingt nach einem ausgefuchsten Plan.«
»Genau darauf will ich hinaus: Wir haben es hier mit einem gebildeten Menschen zu tun, etwas älter vielleicht, so zwischen vierzig und sechzig, würde ich meinen, denn Sagen sind kein Wissensgebiet für junge Menschen und in den Schulen werden sie heute kaum vermittelt. Also ein reiferer Täter, aber kräftig und sportlich, sonst hätte er die Tat nicht ausführen können. Und er muss planen, antizipieren können, sonst wäre er zu einer solchen Inszenierung nicht fähig.«
»Mehrere möglicherweise?«
»Möglich, aber nicht wahrscheinlich. Es kommt nicht oft vor, dass Täter mit so einer ausgeprägten Mission Mitstreiter finden. Aber man kann natürlich nie wissen. Das alles ist wissenschaftlich fundierte Spekulation, Rätselraten auf akademischem Niveau, wenn du so willst.«
Markus machte eine Pause, nahm einen Schluck Kaffee und starrte die Tasse an. Kluftinger sagte nichts, er hatte das Gefühl, dass sein Sohn noch nicht ganz fertig war.
»Eins noch: Der Mörder ist auch eitel. Er erhebt seine Taten zur Kunstform. Und Eitelkeit, das lehrt die Statistik, ist der schlimmste Feind von Verbrechern.«
Kluftinger nickte. »Ich hab nur noch eine Frage.«
»Schieß los.«
»Warum ausgerechnet Sagen? Warum nicht Märchen oder Bilder? Warum Sagen?« Er erzählte seinem Sohn, dass er sich bereits etwas in die Thematik eingearbeitet hatte, aber dabei noch nicht weiter gekommen war.
»Das ist nicht ohne weiteres zu beantworten«, erwiderte Markus zögerlich. »Man müsste das Pferd zur Beantwortung dieser Frage wohl eher von hinten aufzäumen und fragen: Was bedeuten Sagen eigentlich? Wofür haben wir unsere Mythen? Ein Ansatzpunkt, der mir hier hilfreich erscheint, ist, dass in Sagen sehr oft ein Gerechtigkeitsmotiv variiert wird. Allerdings mischt sich in der Regel eine transzendente Macht in das Geschehen ein.«
Mit einem großen Schluck trank Markus die Kaffeetasse leer, setzte sie geräuschvoll auf dem Tisch ab und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück, als erwarte er nun die Ovationen seines Vaters für seine Analyse. Und die ließen tatsächlich nicht lange auf sich warten, wenn auch etwas anders, als sich Markus das vielleicht erhofft hatte:
»Isch halt doch gut, dass ma den Bub hat studieren lassen«, sagte Kluftinger und fügte beim Blick auf die Uhr schnell hinzu: »Jessesmaria, ich muss ja schon längst weg.«
Er erhob sich, packte seinen Mantel und verließ das Haus so sehr mit Stolz angefüllt, dass er gar nicht wusste, wohin damit.
***
Sein Stolz wurde, je näher er seinem Büro kam, mehr und mehr von einem schlechten Gewissen verdrängt, weil er die Hausaufgaben, die er gestern der ganzen Sonderkommission gegeben hatte, selbst nicht gemacht hatte: Zum Lesen in den Sagenbüchern war er beim besten Willen nicht mehr gekommen. Aber er hatte in den Gesprächen mit seinem Sohn wahrscheinlich viel wichtigere Erkenntnisse für die Ermittlungen erlangt, rechtfertigte er sich vor sich selbst.
Als er an seinem Schreibtisch Platz nahm, wo sein PC bereits lief – er hatte nach dem Eklat mit dem Kollegen Hefele seine Sekretärin beauftragt, den Computer immer schon zu starten, bevor er da war, um, wie er sich ausgedrückt hatte, »möglicherweise wichtige Minuten« einzusparen – fand er nur eine einzige Mail in seinem Postfach.
Blau unterlegt las er die Worte »Neue Theorie – vertraulich« in der Betreffzeile, daneben stand der Absender: Maier, Richard KK. »O Jesses«
Weitere Kostenlose Bücher