Erntedank
Aber er wollte ihn nicht ärgern. Nein, ihm war ihr gestriges Gespräch nicht mehr aus dem Kopf gegangen: Markus hatte sich als scharfsinniger Beobachter erwiesen, was Kluftinger nicht nur mit Stolz, sondern auch mit der Gewissheit erfüllte, ihn das Richtige studieren gelassen zu haben, auch wenn es bis zu dieser Erkenntnis ein wenig gedauert hatte. Psychologie war nicht gerade Kluftingers Wunschfach gewesen. Manchmal hatte er sich sogar ein bisschen geniert, wenn er in geselliger Runde, in der andere Eltern mit Europäischer Wirtschaft oder Informatik als zukunftssichere Studiengänge für ihren Nachwuchs angaben, lediglich Psychologie zu bieten hatte – ein Berufsfeld, das nun mal den Ruf hatte, vornehmlich von Menschen ausgeübt zu werden, die selbst nicht immer die beste Ordnung im Oberstübchen hatten. Und natürlich war Kluftinger gerne Zielscheibe des Spotts seiner Mitmenschen, die ihn dann mit Bemerkungen malträtierten wie »So, kommt dein Sohn dann mal auf Kaufbeuren?« – dort gab es eine geschlossene psychiatrische Anstalt – oder »Manche Dinge vererben sich eben einfach«.
Gestern aber hatten sie, soweit er sich erinnern konnte, ihr erstes Fachgespräch gehabt, in dem jeder die Kenntnisse des anderen respektierte – und das hatte ihm nicht nur gefallen, er versprach sich auch für das Fortkommen in seinem Fall einiges von einer Vertiefung des Themas.
»Markus … äh … bist du schon wach?«
Er sah sofort ein, dass das eine dämliche Frage war. Nicht nur, weil halb sieben nicht gerade die Zeit war, in der Studenten aufzustehen pflegten. Natürlich auch, weil die Antwort »Nein« keine wirkliche Option war. Er hatte früher aus gutem Grund das Wekken seiner Frau überlassen. Die hatte eine gewisse zärtliche Bestimmtheit, die einen sanft vom Reich der Träume in den Tag hinübergleiten ließ, während man sich bei ihm vorkam, als würde er mit seiner Trommel durchs Zimmer marschieren.
»Hm?«, kam es leise und etwas desorientiert aus Markus’ Bett.
»Ich würd’ gern noch vor dem Arbeiten mit dir über gestern weiter reden. Über den Fall. Wir konnten ja nicht wegen … na, jedenfalls ging’s ja dann nicht mehr.« Er scheute sich, zu sagen »wegen deiner Mutter«, denn sie hatte sich ja auf ihn gefreut und natürlich das gleiche Recht, mit ihrem Sohn zu reden, wie er.
»Komm sofort«, tönte es erstaunlich wach aus dem Dunkel.
Gut gelaunt ging Kluftinger ins Bad, und als er herauskam, saß Markus schon am Frühstückstisch und las die Zeitung.
»Was zu essen?«, fragte Kluftinger.
»Ja. Kaffee. Schwarz.«
»Hör mal, es tut mir Leid, dass ich dich so früh geweckt habe, aber … «
»Schon gut. Ich bin gar nicht mehr der Langschläfer von früher.«
Kluftinger seufzte. Früher hätte man Markus am Wochenende nicht vor zwei aus dem Bett bekommen – jedenfalls nicht ohne Androhung körperlicher Gewalt. Kluftinger hatte das nie verstanden und polterte dann bei seinen täglichen Verrichtungen immer besonders laut durchs Haus. Nicht aus Bosheit. Er fand einfach, dass es sich nicht gehöre, dem lieben Gott so den Tag zu stehlen. Sein Vater hätte ihn wahrscheinlich aus dem Bett geprügelt, wenn ihm eingefallen wäre, auch nur eine Minute länger als bis acht Uhr liegen zu bleiben. Aber das waren wohl andere Zeiten gewesen.
»Also, wegen gestern: Du hast da ein paar interessante Dinge gesagt.«
Markus sah auf einmal gar nicht mehr so zerknittert aus. Es kam selten vor, dass er von seinem Vater gelobt wurde.
»Vor allem das, wo du gemeint hast, der Mörder will, dass die Tat dechiffriert wird.«
»Ja. Das ist ein plausibler Grund. Er – ich denke wir können bei der männlichen Form bleiben, denn alles deutet auf einen Mann hin, aber das kann ich später noch genauer ausführen, wenn du willst – also, er arrangiert die Leichen. Quasi ein Schulbeispiel. Könnte ich mal ein Referat drüber halten.«
Kluftinger erschrak: »Ich darf dir das alles eigentlich gar nicht erzählen, das ist dir schon klar, oder?«
»Vatter, das war nur Spaß. Natürlich bleibt das alles unter uns.«
»Ach so, gut. Hast du sonst noch irgendwelche Ideen?«
»Na ja, ich denke, dass der Mörder Sagenmotive benutzt, ist kein Zufall. Auch das hat einen Hintergrund, der uns weiter auf seine Spur bringen kann.«
Jetzt war Kluftinger baff. Er hatte noch keine Silbe über die Sagen verloren. Sie hatten über eine Woche gebraucht, um darauf zu kommen, und Markus schüttelte diese Erkenntnis
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