Erntedank
Oktobertag war, gönnte er sich ein paar Minuten, in denen er einfach nur hinunterblickte. Er war nie ein großer Stadtfreund gewesen, aber er musste zugeben, dass Kempten an solchen Tagen auch seine Reize hatte, auch wenn er jederzeit dem Blick von einem Berggipfel auf ein grünes Tal den Vorzug gegeben hätte. Von hier oben gefiel ihm der Sitz seiner Behörde allerdings auch recht gut; außerdem drangen die Geräusche der gut Einundsechzigtausend-Einwohner-Stadt nur gedämpft bis hierher und ließen ihn, während er gegen die Sonne blinzelte, für ganz kurze Zeit vergessen, welch schreckliche Verbrechen seine Heimat zur Zeit erschütterten.
Mit einem Seufzen riss er sich schließlich von dem Anblick los und marschierte durch das Tor in den archäologischen Park. Er war noch nie hier gewesen und so nahm er sich die Zeit, sich erst einmal zu orientieren. Links von ihm stand ein zweigeschossiges Gebäude mit rotem Ziegeldach, das mit seinen kleinen Fenstern römisch wirkte, gegenüber lag ein kleineres Häuschen, das wie eine Kapelle aussah, und dazwischen stand eine Art Säulen-Pavillon. Den Boden zierten die Reste einer Steinmauer, die wohl den Grundriss eines ehemaligen Gebäudes markierten; rechts von ihm ragte eine Säule mit lateinischer Inschrift auf. Obwohl all diese Gebäude seit höchstens zwanzig Jahren standen und weiß verputzt waren, vermittelten sie antike Atmosphäre.
Erst jetzt sah Kluftinger, dass neben der kleinen Kapelle ein Mann mit dem Rücken zu ihm kniete, den Oberkörper weit nach unten gebeugt, so dass sein gewaltiges Gesäß weit in die Luft ragte. Kluftinger näherte sich ihm, doch selbst als er nur noch wenige Meter entfernt war, reckte ihm der Kniende noch immer seine Kehrseite entgegen.
Der Kommissar räusperte sich geräuschvoll, um auf sich aufmerksam zu machen. Erschrocken fuhr der Mann in den hellen, abgewetzten Jeans und dem dunkelblauen Hemd vor ihm herum und starrte ihn aus einem geröteten, verschwitzten Gesicht unter einem grotesken Strohhut heraus an. Kluftinger schätzte ihn auf Anfang fünfzig.
»Herr Schneider?«
»Doktor Schneider, der bin ich, richtig. Darf ich fragen, wer … «
»Kluftinger, Kripo Kempten. Grüß Gott.«
Schwerfällig erhob sich der Archäologe und Kluftinger fiel auf, dass sein Hemd schweißnass an seinem massigen Oberkörper klebte. Dabei war es ein zwar sonniger, aber trotzdem herbstlich kühler Tag.
»Ich hoffe, ich störe Sie nicht bei etwas Wichtigem«, sagte der Kommissar und deutete dabei auf den Pinsel und den kleinen Meißel, den Schneider in der Hand hielt.
»Ach so, nein, nein. Irgendjemand muss die Sachen ja in Schuss halten, nicht wahr? Aber wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich ermittle gerade in zwei Mordfällen und ich dachte, Sie können mir vielleicht weiterhelfen. Eigentlich geht es um einen ganz speziellen, der vor einer Woche in Rappenscheuchen passiert ist.«
»Ach ja, ich hab da heute was in der Zeitung gelesen. Geht um Sagen, nicht wahr?«
Kluftinger schnaufte. Für einen kurzen Moment stieg ihm wieder die Zornesröte ins Gesicht und er fragte sich, ob der Anpfiff für seinen Kollegen Richard Maier heute Morgen scharf genug gewesen war.
»Das stand in der Zeitung, richtig. Dann kann ich mir ja weitere Vorreden sparen. Also: Wir wissen sicher, dass der zweite Mord eine Sage zum Vorbild gehabt hat, und wir gehen davon aus, dass das auch bei dem Mord in Rappenscheuchen der Fall ist. Na, und wir dachten, dass Sie vielleicht … weil Sie sich doch, quasi beruflich, mit der Vergangenheit … «
»Ach so«, unterbrach ihn Schneider und schaukelte dann seinen Bauch im Takt seines Lachens. »Also wissen Sie, Archäologie hat nicht gerade was mit Sagen tun. Ist zwar ein sagenhafter Beruf, wenn Sie mir das Wortspiel erlauben, aber es ist eben auch eine Wissenschaft, die nach historischen Fakten sucht, während Sagen ja doch eher ins Reich der Phantasie gehören.«
Kluftinger kam sich wie ein Schuljunge vor, als ihn der Archäologe belehrte. Natürlich wusste er das oder hatte es zumindest instinktiv so verstanden, trotzdem schien es eine plausible Möglichkeit gewesen zu sein.
»Das weiß ich natürlich«, rechtfertigte sich Kluftinger etwas heftiger als er eigentlich wollte.
Schneider ließ ihn gar nicht weiter zu Wort kommen: »Als Archäologe kann ich Ihnen über Rappenscheuchen zumindest so viel sagen: Es gab dort einmal eine Burg, von der inzwischen aber leider nichts mehr zu sehen ist. Vielleicht gehen Sie mal ins
Weitere Kostenlose Bücher