Erntemord
sie den Blick ab, als würden sie zum Leben erweckt, wenn sie sie anschaute.
Sie machte einen kurzen Halt beim Empfang, um Daniel zu sagen, dass sie in einer Weile zurückkäme. Sie warnte ihn, dass er den Schlüssel hatte, sodass sie nicht hatte abschließen können und jeder Tourist sich in sein Allerheiligstes verirren konnte.
Er grinste und versicherte ihr, dass er sich darum kümmern würde.
Draußen schien die Luft kühler geworden zu sein. Der Himmel war eisengrau, und nicht einmal die Farbenpracht der Blätter konnte die bedrückende Wirkung mildern.
Vielleicht fühlten das auch die Touristen, denn die Straßen waren nicht ansatzweise so belebt wie normalerweise zu dieser Jahreszeit. Vermutlich saß jeder irgendwo drinnen, trank Kaffee oder heiße Schokolade, um sich für die Kälte auf der Straße zu stärken.
Kaum hatte sie den Laden betreten, griff Eve sie am Arm,
verschloss die Tür und hängte ein Schild auf: In fünf Minuten zurück. Versprochen!
„Was zum Teufel ist denn los?“, fragte Rowenna, die aufrichtig besorgt war wegen des Verhaltens ihrer Freundin.
„Du musst das sehen“, sagte Eve und zog sie in den hinteren Teil des Ladens. Neben der Tür zum Lagerraum gab es zwei abgeteilte Nischen, die vom Rest des Ladens mit kobaltfarbenen Samtvorhängen getrennt waren, auf die mit goldenem Faden Sonne, Mond und diverse Planeten aufgestickt waren. Die eine Nische nutzte Eve für ihre Sitzungen, die andere gehörte Adam.
Eve führte sie in Adams Raum.
Ein Dekostoff lag über dem kleinen Tisch, auf dem sich eine Kristallkugel und ein Satz Tarotkarten befanden. Einzige Zierde in dem dunkel gestrichenen Raum war ein großer Kerzenhalter mit Duftkerze, der auf einem schmalen Schreibtisch an der hinteren Wand stand.
Rowenna blickte Eve an. „Okay … ich sollte hier … was sehen?“
„Ich zeige es dir.“
Eve ging um den Tisch herum, öffnete die oberste Schublade des Schreibtisches und holte ein Buch hervor.
„Ist es über Alistair Crowley? Über Satanismus?“, fragte Rowenna, die sich noch immer wunderte, warum ihre Freundin so aufgeregt war.
„Nein. Es ist ein Buch mit Zaubersprüchen.“
Rowenna senkte den Kopf, weil sie lächeln musste. Sie würde sich niemals über Eve oder ihren Glauben lustig machen, doch sie konnte einfach nicht glauben, dass ein paar Kräuter und ein Spruch einen Liebes- oder sonst irgendeinen Zauber bewirken konnten.
„Eve, es gibt Tausende von Büchern mit Zaubersprüchen in …“
„Öffne es an der markierten Stelle“, forderte Eve.
Rowenna folgte ihr, konnte das Geschriebene jedoch kaum lesen. Das Licht in dem Raum war zu schwach, und die altertümliche Schrift machte die Sache nicht besser. Als sich ihre Augen schließlich an das Licht gewöhnt hatten, konnte sie die Buchstaben einigermaßen entziffern.
„‚Sieben‘“, las Rowenna laut vor. „‚Die Zahl ist sieben. Und wenn das Siebte in der vorgeschriebenen Weise eingenommen wird, wird der Mann zu Gott. Es steht geschrieben, dass der Gott männlich ist und dass die Frau dem Manne dient, und so soll es ein. Doch der, der zum Gott wird, muss das vorgeschriebene Opfer zelebrieren, und die Zahl ist sieben. Die Ernte muss genährt werden, und Nahrung muss der Erde zurückgegeben werden.‘“ Rowenna blickte Eve an.
„Lies weiter“, sagte Eve.
„‚Der Gott muss zuerst ein Mann sein und fleischlich als Mann handeln‘“, fuhr Rowenna fort.
„Sie wurde vergewaltigt, oder?“, wollte Eve wissen.
„Was?“
„Dinah Green. Sie wurde sexuell missbraucht“, sagte Eve. „Ja, aber …“
„Ich habe gelogen. Ich habe gelogen, um Adam zu schützen. Weil ich an ihn glaube. Ihn liebe.“ Sie hielt inne, und die Verzweiflung, die sich in ihrer Miene spiegelte, brach Rowenna fast das Herz. „Ich habe ihn geliebt. Ich habe an ihn geglaubt. Aber er will diese furchtbaren Bücher nicht aufgeben, Rowenna. Er sagt, er braucht sie. Ach, Ro! An Halloween hat er den Laden verlassen und war lange weg – genau zu der Zeit, als Mary Johnstone verschwand. Er war den ganzen Tag mal da und mal nicht da – doch zu dieser Zeit war er fort. Und dann … davor … diese andere Frau. Dinah Green. Als sie im Laden war, hat er mit ihr geflirtet. Sie hat angefangen – ich nehme an, sie hielt mich für irgendeine Angestellte –, doch er flirtete eindeutig zurück. Und als sie den Laden verließ, ging er ein paar Minuten später auch fort. OhGott, Ro! Ich habe Angst, dass ich mit einem Mörder verheiratet sein
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