Erntemord
dann nimmt er sie ins Visier, macht sie zu seinem nächsten Opfer.“
„Aber ich kann helfen!“, rief Rowenna. Sie blickte mit bebenden Nasenflügeln von einem zum anderen. Sie hatte plötzlich ein Bild vor Augen, wie sie beide mit den Füßen aufstampften und wie zwei wütende Bullen aufeinander losgingen.
„Hört beide auf. Jeremy, der Mörder wird gar nichts glauben, weil er nicht einmal weiß, dass ich existiere – Joe und ich sind alleine hierhergefahren. Ich weiß, dass du dich um mich sorgst, und dafür bin ich dankbar. Außerdem bin ich aber auch zurechnungsfähig, volljährig und mehr als in der Lage, auf mich selbst aufzupassen.“ Bebend – ob vor Wut oder Angst, wusste sie selber nicht – ging sie an ihm vorbei Richtung Straße.
Sie hörte, wie sich die Männer hinter ihr raschelnd einen Weg durch die Halme bahnten.
Jeremy ergriff zuerst das Wort. „Warte! Ich bringe dich zurück in die Stadt!“
„Hey, sie ist mit mir hier rausgefahren“, sagte Joe entschieden.
Sie wirbelte herum. „Schert euch zum Teufel! Ihr benehmt euch wie zwei Fünfjährige. Ich trampe.“
Noch während sie sprach, wusste sie sehr wohl, dass sie keinerlei Absicht hatte, per Anhalter zu fahren. Dazu war ihr Selbsterhaltungstrieb doch zu stark.
„Nein, nein, warte. Fahr mit Joe zurück, und ich folge euch“, sagte Jeremy, der zu ihr aufschloss.
„Nein. Ist schon okay. Fahr mit Flynn, und ich folge“, sagte Joe.
„Sehen Sie, es spielt keine Rolle“, sagte Jeremy. „Vielleicht habe ich überreagiert, aber kommen Sie, Joe. Sie hätten ebenfalls überreagiert, wenn sie erfahren hätten, dass Rowenna und ich am Tatort eines solchen Blutbades wären … Erst recht nach dem heutigen Morgen.“
„Ja, vermutlich“, murmelte Joe. „Hey, war das eine Entschuldigung?“
„Ich entschuldige mich dafür, mich wie ein Idiot aufgeführt zu haben. Aber ich denke noch immer, dass sie nicht hier draußen sein sollte“, sagte Jeremy.
Joe ignorierte das, wandte sich Rowenna zu und fragte: „Ihr zwei fahrt zurück zum Museum, oder?“
„Ja“, erwiderte sie.
Doch als sie Jeremy zur Bestätigung ansah, wirkte er zögerlich.
„Tut mir leid, ich fahre zurück zum Museum“, sagte Rowenna zu Joe.
„Ich treffe dich dort gegen fünf“, sagte Jeremy. „Joe, Sie kümmern sich darum, dass sie sicher dort hinkommt, nicht wahr?“
„Darauf können Sie wetten“, versprach Joe ihm.
Jeremy ging kurz zu ihr und sah ihr in die Augen, bevor er ihr einen Kuss auf die Wange gab. Dann nickte er Joe zu und eilte zu seinem Wagen.
Rowenna blickte ihm verwirrt nach und hatte plötzlich das Gefühl, dass die letzten Minuten ein Streit um des Streites willen gewesen waren, eine Art bizarres männliches Bindungsritual, für das sie nur den Vorwand geliefert hatte.
Joe holte sie am Seitenstreifen der Straße ein und ging mit ihr zu seinem Wagen.
„Das war merkwürdig“, sagte sie, während sie auf dem Beifahrersitz Platz nahm.
„Nicht wirklich“, entgegnete er. Er blickte kurz in den Rückspiegel, bevor er auf die Straße fuhr.
„Doch, das war es“, versicherte sie. „Erst drehte er fast durch aus Sorge um mich, und dann scheint er mich auf der Stelle vergessen zu haben.“
Joe grinste nur und blickte sie an. „Er war in Panik, als du nicht dort warst, wo du hättest sein sollen. Jetzt weiß er, dass du in Sicherheit bist, und er hat noch irgendeinen anderen Termin.“
„Höre ich richtig? Du verteidigst ihn?“, fragte sie erstaunt. Er zuckte die Achseln. „Der Junge ist okay“, sagte er.
Sie lachte. „Er ist kein Junge.“
„Herrje, wenn du so alt bist wie ich“, sagte Joe, „dann ist er ein Junge. So wie du ein Mädchen bist. Belassen wir’s dabei, okay?“
Sie schwieg und starrte aus dem Fenster, an dem die Maisfelder vorbeizogen. Nach einer Weile sah sie zu ihm. „Ich schätze, du hast eine Ahnung, wo er hinwill?“
Joe grinste. „Logische Vermutung?“
„Logische Vermutung.“
„Er wird zu den MacElroys fahren. Er will Ginny und Doc MacElroy persönlich kennenlernen.“
Rowenna lehnte sich zurück und dachte daran, wie lächerlich es war, dass die kleine Ginny MacElroy etwas, das mehr als fünf Kilo wog, durch ein Maisfeld zerren sollte.
Aber da war ja noch Doc MacElroy. Sie war mit seinenKindern zur Schule gegangen, und MacElroy selbst hätte besser nach Beverly Hills als nach Salem gepasst. Er war schlank, gebräunt und hatte volles silberweißes Haar. Seine Augen leuchteten so blau wie der
Weitere Kostenlose Bücher