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Erntemord

Erntemord

Titel: Erntemord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Graham
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Mais, nur wenige Tage vor der Ernte, ragte hoch in den Himmel, obwohl so viele Menschen über ihn hinübergetrampelt waren. Mutter Natur beschützte ihre Lieben. Die Erde mochte nicht unendlich sein, aber sie würde noch Millionen Jahre weiterexistieren, selbst wenn die Menschheit das nicht tat. Ihr entsprang das Leben: Organismen, die so winzig waren, dass man sie nicht sehen konnte, andere so riesig wie Elefanten oder Wale, wieder andere so egoistisch wie die Menschen.
    Doch all ihre Kreaturen kehrten zu ihr zurück, wurden am Ende wieder Teil von ihr.
    Und sie akzeptierte sie alle, so wie sie das Blut akzeptiert hatte, das aus Dinah Green geflossen war.
    Rowenna spürte die Kraft des Bodens und den raschelnden wachsenden Mais.
    Vielleicht spürte sogar der Mais, dass seine Zeit gekommen war.
    Sie versuchte, das Gefühl von Schrecken und Endgültigkeit abzuschütteln, das sie hier in dem weiten Feld ergriffen hatte. Sie versuchte sich einzureden, dass der reiche Duft der Natur lieblich war und die Brise sie umschmeichelte.
    Es spielte keine Rolle. Nichts konnte ihre Meinung ändern.
    Sie wollte nicht hier sein.
    Joe stand nur wenige Meter von ihr entfernt. „Nun?“, fragte er sanft.
    Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, was du glaubst, was ich tun kann. Die Spurensicherung hat schon alles abgesucht. Was sollte ich hier finden, das sie nicht gefunden haben?“
    „Was fühlst du?“, fragte er.
    „Joe, ich habe dir gesagt, dass ich mich nur in die Rolle des Opfers versetzen und dann logisch denken kann.“
    „Okay, dann denk logisch.“
    „Glaubst du, dass sie hier getötet wurde?“
    Er nickte.
    „Wo wurde sie gefunden? Genau?“, fragte Rowenna.
    Er deutete auf einen Punkt in ihrer Nähe. Sie fühlte sich wie eine Idiotin. Die Natur nahm, was ihr gebührte, doch direkt neben ihr befand sich eine nummerierte Markierung, und wenn sie nach unten gesehen hätte, hätte sie den tief in den Boden geschlagenen Pflock gesehen.
    Joe kam zu ihr und reichte ihr ein Farbbild von Dinah Greens Führerschein.
    Die Frau war hübsch gewesen. Haar: dunkelbraun, fast schwarz. Augen: braun. Größe: einen Meter und zweiundsechzig groß. Sie hatte sich für den Fotografen beim Verkehrsamt ein schüchternes Lächeln abgerungen. Sie wirkte wie eine Frau, die das Leben noch vor sich hatte und es kaum erwarten konnte, hinauszukommen.
    Die Brise frischte auf, oder zumindest schien es so. Rowenna sah auf, als sie durch ihr Haar fuhr. Die Sonne hatte einen merkwürdig trüben Schleier, der immer tiefer sank. Es würde viel zu früh dunkel werden.
    Rowenna schloss die Augen und verlor sich in den Bildern und Gefühlen, die in ihr aufstiegen.
    Sie glaubte, jemanden betteln zu hören. Eine weibliche Stimme voller Angst und – erstaunlicherweise – Hoffnung. Das menschliche Herz hofft bis zuletzt, gegen alle Vernunft.
    Rowenna verzog das Gesicht, als sie von weit weg einen Schrei hörte, wie die Erinnerung an eine vergangene Zeit.
    Und dann ein schreckliches Lachen. Das grausame Lachen eines Mannes.
    Es gab einen Kampf, und wieder ertönte die Stimme der Frau.
    „Ich werde gut sein, ich schwöre es.“
    Und ein Mann, der sprach. Eine tiefe Stimme, in der Unerbittlichkeit mitschwang.
    „Es ist zu spät.“
    Und dann wieder ein Kampf. Stöhnen.
    Ein weiterer Schrei. Diesmal erstickt, voller Agonie.
    Und dann …
    Und dann begriff sie alles – was er tat, wo er es tat, sogar bis zu einem gewissen Grad, warum er es tat. Und sie war entsetzt.
    Plötzlich rang Rowenna nach Luft, umklammerte mit den Händen ihren Hals, als wollte sie einen Angreifer abwehren. Sie fiel auf die Knie und wusste, dass seine Hände um den Hals der Frau lagen, fühlte sie um ihren Hals, seine Stärke … brutal und unmöglich abzuwehren.
    Sie hörte ein Knacken, als ein winziger Knochen hinten im Hals brach …
    „Ro!“
    Joe war an ihrer Seite, schüttelte sie und zog sie auf die Füße.
    Sie blinzelte mehrmals.
    Über der Sonne, deren Strahlen sanft auf ihr ruhten, lag nicht länger der gespenstische Schleier.
    „Ro, bist du in Ordnung?“
    Joe ist besorgt, dachte sie, doch gleichzeitig schien es ihm kein bisschen leidzutun, was er sie gerade hatte durchmachenlassen.
    „Ja, mir geht’s gut“, sagte sie. Und das tat es. Die Sonne war warm. Die Brise sanft. Das Leben normal.
    „Was hast du gesehen?“
    „Ich sehe keine Dinge“, flüsterte sie und wusste nicht genau, ob ihr Widerspruch ihm oder ihr selbst galt. Denn dieses Mal hatten ihre

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