Eroberer
Englands südlicheren Häfen aus kann man das Eis umgehen«, erwiderte Sihtric. »Die Wikinger, die Vinland besiedeln wollten, konnten sich nicht gegen die Skraelings verteidigen. Aber stell dir vor, wie es wäre, in einem mit den nördlichen Ländern
vereinten England eine neue Expedition auszurüsten: der Reichtum der Engländer, die Fähigkeiten der Wikinger im Schiffbau und in der Navigation. Wir könnten die Skraelings herausfordern – lernen, wie sie Robben und Bären jagen – ihnen die Frauen wegnehmen, die ihre Fellboote nähen. ›Aufs Meer im Osten / und im Westen fahren / Männer des neuen Rom / aus des Ebers Schoß.‹ Wir können diese neue Welt in Besitz nehmen. All das steht in der Prophezeiung.«
Harold legte die Stirn in Falten. »Aber der Eber? Was kann das bedeuten?«
»Bei diesem Punkt bin ich mir nicht sicher …«
»Jorvik«, sagte Godgifu plötzlich, und sie sahen sie an. »Verzeihung, Herr. Aber mir ist gerade etwas eingefallen. Der englische Name der Stadt lautet Eoforwic, das heißt ›Ort des Ebers‹.«
Sihtrics Augen glänzten. Ihr Einwurf hatte ihn überrascht, aber er freute sich, dass ein weiteres Stück seines Rätsels gelöst war. »Jorvik also. Es ist die Bestimmung unserer Generation, ein neues, Meere überspannendes Reich zu errichten, das von Vinland im Westen bis zum Baltikum im Osten reicht und dessen Zentrum England ist – und die Hauptstadt wird Jorvik sein. Aber das ist noch nicht alles. Die germanischen Staaten werden von den gewaltigen Warenströmen gen Norden angelockt werden und sich vom lateinischen Süden abwenden …«
Harold hob eine Hand. »Genug. Sag mir, wie wir dieses gelobte Land erreichen.«
»Es steht alles in der Prophezeiung«, sagte Sihtric. »›Schritt für Schritt.‹ Die fünfte Strophe schildert den Überfall der Wikinger auf Lindisfarena. Die Kopisten in den Klöstern haben jahrhundertelang daran gearbeitet, das Menologium für dich zu bewahren, Herr, und die Worte des Menologiums selbst haben es den Mönchen ermöglicht, es vor dem Feuer der Nordmänner zu retten – was sie getan haben.
Anschließend hat das Menologium die Zeit überdauert, bis es Alfred vorgelegt werden konnte – und als alles schon verloren scheinen musste, hat es ihm bewiesen, dass er gegen die dänische Streitmacht die Oberhand gewinnen würde. Ein weiterer erfolgreicher Schritt. Und damit kommen wir nun zur neunten Strophe.«
»Die dieses Jahr beschreibt«, sagte Harold fasziniert und verwirrt zugleich. »Die meine Handlungen schildert, wie du behauptest.«
»Ja.« Und der Priester las erneut vor: »›Ein Bruder tötet den andern. / Ein Krieger nimmt / Noble elfenweise Krone. / Bruder herzt Bruder. / Nord kommt von Süd / spritzt Blut an die Wand.‹«
»Ein Bruder, der den anderen tötet«, knurrte Harold. »Darüber haben wir schon gesprochen. Ich werde Tostig nicht umbringen lassen, Priester.«
Gelassen erwiderte Sihtric seinen wütenden Blick. »Aber es ist vielleicht notwendig. Der Krieger, der Elfenweise – ist das jetzt nicht klar? Es war deine Pflicht, Alfreds Thron zu besteigen.«
Harold funkelte ihn an. »Weiter, weiter«, fauchte
er. »›Bruder herzt Bruder.‹ Was hat das zu bedeuten? Muss ich Tostig jetzt vergeben? «
»Nein«, sagte Sihtric mit fester Stimme. »Ich habe mir über diese Formulierung den Kopf zerbrochen, Herr. Man darf sie nicht wörtlich nehmen. Ich glaube, es bedeutet, dass du die Nordmänner umarmen musst.«
»Was, Harald Hardrada?« Harold lachte.
»Schließe Frieden mit ihm , Herr«, drängte Sihtric, »bevor er Gelegenheit hat, mit Waffengewalt nach der Krone zu greifen.«
Harold blickte finster drein. Ihm gefiel ganz offenkundig nicht, was er hörte. »Und was dann?«
Sihtric holte tief Luft. »Und dann, wenn William kommt, wirst du bereit sein. ›Nord kommt von Süd / spritzt Blut an die Wand.‹«
»Ah. Du denkst, damit sind die Normannen gemeint? Nordmänner, die uns von Süden her angreifen. Ihr Blut, auf unseren Schildwällen vergossen.«
»Ja! So ist es, Herr. Engländer und Nordmänner werden sich gemeinsam dem normannischen Bastard entgegenstellen und ihn vernichten. Und das wird der Abschluss des Menologium-Programms sein – das Endergebnis all dieser Schritte im Lauf der Jahrhunderte –, und das Rom des Nordens wird entstehen.«
»Und wenn nicht«, sagte Harold düster, »wenn England an die Normannen fällt, was dann? England wird sich nach Süden wenden, nicht nach Norden, nehme ich an,
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