Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eroberer

Eroberer

Titel: Eroberer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
Vom Netzwerk:
verlassen.
    Ambrosias war hager, vielleicht siebzig Jahre alt und in einen dicken wollenen Umhang mit Kapuze gekleidet, obwohl das Frühlingswetter nicht kalt war. Jedoch trug er sein silbergraues Haar kurz geschnitten und war rasiert, trotz der Stoppeln auf seiner ledrigen Haut. Früher einmal musste er gut ausgesehen haben, dachte Wuffa, mit einer stolzen Nase und einem starken Kinn. Jetzt aber wirkte sein Gesicht eingefallen, und sein Körper war verhutzelt.
    Dies war der »letzte Römer«, der von des Lesens und Schreibens unkundigen anglischen Bauern wie eine Art Haustier gehalten wurde.
    Und als Ammanius auf ihn zutrat, ignorierte Ambrosias den Bischof und wandte sich an Ulf und Wuffa. Er war lebhaft und voller Eifer, und Wuffa wich vor seiner Intensität zurück. »Ich habe euch erwartet«, sagte Ambrosias auf Lateinisch.

IX
    Als der Abend hereinbrach, war der Komet, der am dunklen Nordhimmel hing, heller und spektakulärer denn je.
    Während die Novizen in einem Stall in dem anglischen Dorf schliefen, beharrte Ambrosias darauf, dass die vier Gäste die Nacht im Kastell verbrachten. Er bereitete eine Mahlzeit zu. »Esst und trinkt«, sagte er. »Wenn ein Römer eines ist, dann gastfreundlich.« Er schlurfte mit einem Teller voll klein geschnittenem Fleisch und einen Krug Bier umher. »Natürlich bin ich meinen neuen anglischen Nachbarn unten am Hügel dankbar, aber ich wünschte, sie würden ein wenig guten kontinentalen Wein in die Hände bekommen statt dieses dreckige germanische Bier. Wisst ihr, ich habe mal versucht, hier ein paar Weinreben zu züchten, an der Südmauer des Kastells. Sind im ersten harten Winter verwelkt und eingegangen. Ach, was soll’s …«
    Ambrosias’ vier Gäste, Ammanius und Sulpicia, Ulf und Wuffa, ruhten auf Liegebetten. Dies war die römische Art, seine Mahlzeiten einzunehmen: im Liegen. Sie befanden sich in einem Raum in den Ruinen der alten principia des Kastells, des ehemaligen Hauptquartiers. Es war eine kleine römische Insel mit Mosaiken
auf dem Fußboden, Fresken, Geschirr und Besteck sowie Amphoren, die an den Wänden einer winzigen Küche lehnten. Auf dem Boden häuften sich Schriftrollen und Blöcke aus Holztäfelchen, und an den Wänden standen lauter Schränke. Das ursprüngliche Dach der principia existierte längst nicht mehr, aber dieser eine Teil war mit verrottendem Stroh überdacht.
    Alles war abgenutzt und alt, die Tonwaren mehrfach ausgebessert, das Besteck so oft geschärft, dass die Messerklingen dünn wie Herbstblätter waren, und der Raum selbst war ein Loch aus Staub und Ruß.
    Ammanius kam rasch auf das Thema Isolde zu sprechen. »Hast du schon einmal von ihr gehört? Falls sie überhaupt je existiert hat …«
    »Oh, sie hat existiert«, sagte Ambrosias. »Und ich bin der lebende Beweis dafür!«
    »Du?«
    »Ich bin ein Nachkomme von Isolde«, sagte Ambrosias. »Und folglich von Nennius, ihrem Vater. Tatsächlich bin ich der Ururenkel von Isoldes Sohn. Und da sie in Rom geboren wurde, bin ich römischer Herkunft.« Er zwinkerte Wuffa zu. »Der ›letzte Römer‹. So nennt ihr Angeln mich doch, nicht wahr?«
    Wuffa schwieg. Er wusste, es würde ihm nichts nützen, auf den Unterschied zwischen Angeln und Sachsen hinzuweisen.
    »Und die Geschichte von Isolde?«, setzte Ammanius nach.
    Sie habe sich vor zweihundert Jahren hier in dieser Festung zugetragen, sagte Ambrosias. Isolde, damals
ein hochschwangeres junges Mädchen, sei von ihrem Vater aus dessen eigenen Gründen von Rom hierher geschleppt worden. Fern von zu Hause habe sie dann ein Kind entbunden, das erste einer Abfolge fünf männlicher Nachfahren, deren letzter schließlich Ambrosias selbst gewesen sei.
    Und mitten in den Wehen habe sie zu sprechen begonnen: ein Geplapper in einer Sprache, die ihr und ihrem Vater fremd gewesen sei.
    Ammanius war andeutungsweise interessiert. »Sie hat also in Zungen geredet. Das ist ein häufiges Wunder. Hat sie von Christus gesprochen?«
    »Oh, sie hat ihn erwähnt«, sagte Ambrosias. »Aber das Wunder bestand darin, dass die Sprache, die sie gesprochen hat, Germanisch war .«
    Wuffa merkte, dass diese Einzelheit mit Ammanius’ Vorstellung von der Beschaffenheit eines echten christlichen Wunders kollidierte. Ihn jedoch faszinierte es, denn in seinen Augen wuchs dadurch die Wahrscheinlichkeit, dass etwas Bemerkenswertes geschehen war und es sich nicht um ein bloßes Pestfieber gehandelt hatte. Welche Form von Wahnsinn könnte eine Lateinisch sprechende

Weitere Kostenlose Bücher