Eroberer
von Ästen befreit hatte. »Ich hab nichts Besseres zu tun.« Er stand auf, nahm die bessere der beiden Äxte, die sie mitgebracht hatte, und ging an die Arbeit.
Während sie sich durch den Frühlingsnachmittag schufteten, sprachen sie kaum ein Wort miteinander.
V
Das Skriptorium war ein dunkler, stiller Raum, in dem es nach altem Pergament und saurer Tinte roch. Bücherstapel säumten die Wände. Aelfric war allein hier; sie arbeitete im flackernden Licht einer Gänseschmalz-Lampe. Dieser tintenschwarze Mutterschoß war ihr liebster Ort auf der ganzen Welt, dachte sie.
Leise kratzte ihr Federkiel über ein weiches Pergament. Aelfric mühte sich mit ihrer Kopie der vierten Strophe des Menologiums der seligen Isolde ab:
Der Komet kommt / im Monat Oktober.
In Demut neigt ein König / vorm Eremiten das Haupt.
Nicht Insel und doch Insel / nicht Schild und doch Schild.
Neunhundertsieben / die Monde des vierten Jahres.
Ihr Schreibgerät war aus einem Gänsekiel gefertigt. Die Tinte, von den Mönchen encaustum genannt, stammte von Galläpfeln an einer Eiche. Man mörserte den Gallapfel in Essig, dickte ihn mit Gummiarabicum an und gab Vitriol hinzu, das für die Farbe sorgte. Die Tinte war dick und ätzend und fraß sich in die
Oberfläche des Pergaments; darum musste man beim Malen der Buchstaben große Sorgfalt walten lassen, denn ein Fehler ließ sich nicht ungeschehen machen (obwohl man ihn als Verzierung tarnen konnte, wie Aelfric rasch gelernt hatte).
Das Pergament, auf dem sie schrieb, bestand aus einer Kalbshaut. Man hatte sie in Urin eingeweicht, um die Haare und das Fett zu entfernen, sie dann sauber geschabt, auf einen Rahmen gespannt und mit einem Stein geglättet. All das hatte etwas wunderbar Erdverbundenes. Aelfric konnte die Pisse der Mönche riechen, und selbst wenn das Buch fertig war, musste es zwischen Holzdeckeln gebunden werden, damit sich das Pergament nicht wieder zur Tierhaut aufrollte.
Als bloßer Novize mit noch nicht einmal einem Jahr Erfahrung solle Aelfric es als Ehre betrachten, am Menologium arbeiten zu dürfen, meinte ihr Lehrer, der alte Komputist Dom Boniface. Unter all den Bibel-Kommentaren, Hagiografien und historischen Darstellungen, den Büchern über Grammatik und Kalenderberechnung und den Chronologien war es der »verborgene Schatz« der kleinen Bibliothek, wie er es formulierte. Dieses kurze und rätselhafte Dokument stützte die Forderung des Abtes, die selige Isolde solle vom Papst heiliggesprochen werden und sich damit in Northumbriens ohnehin schon funkelnde Phalanx himmlischer Krieger einreihen. Und die Worte selbst waren kostbar. Sie seien beinahe verloren gegangen, erklärte ihr Boniface; mehrere Generationen lang seien sie dem Gedächtnis analphabetischer Heiden
überantwortet worden, bevor man sie erneut niedergeschrieben habe.
Doch die in knappen Worten formulierten Rätsel des Menologiums ärgerten Aelfric. Zum Beispiel diese vierte Strophe: Wie konnte ein Schild kein Schild sein und eine Insel keine Insel? Und sie kannte Könige; ihr Vater war der Thegn eines Königs, und kein König würde sich vor einem Eremiten verneigen. Das war alles viel zu obskur für Aelfric, die keine Geduld mit Rätseln hatte, diesen künstlichen Blockaden der Wahrheit.
Die Arbeit an sich bereitete ihr jedoch immer wieder Vergnügen.
Diese Kopie des Menologiums würde nicht viel mehr sein als eine Abschrift des Textes mit ein paar schlichten Illuminationen in schwarzer Tinte. Sie sehnte sich danach, mit Farbe umgehen und ihrer Fantasie völlig freien Lauf lassen zu dürfen. Man hatte ihr versprochen, dass es nicht mehr lange dauern würde, nur noch ein paar Jahre – dies war nun einmal das Tempo des Klosterlebens. In das geschlossene »D« der ersten Zeile malte sie jedoch sorgfältig einen Baum, dessen Wurzeln in unsichtbaren Tiefen verschwanden und dessen Zweige sich zum Himmel reckten. Das Baumbild war ein heimlicher Scherz. In diesem christlichen Dokument spielte sie damit auf Irminsul an, den Weltenbaum der Sagen, die am Feuer ihres Vater immer wieder vorgetragen wurden: den Baum, in dessen mächtigen Zweigen das Universum nistete …
Elfgar und seine Novizen drängten sich ins Skriptorium.
»Ah, Novize … Aelfric, nicht wahr? Wir hatten noch keine Gelegenheit, uns zu unterhalten.« Elfgars Gesicht war rund, beinahe fett. Er aß offenbar viel mehr, als er sollte. Aber seine Augen waren unergründlich und scharf. Seine beiden Kameraden, deren Namen sie nicht kannte,
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