Eroberer
gnadenlos schikaniert.«
Arngrim lachte und trank einen kräftigen Schluck von seinem griesigen Bier. »Ich habe nur versucht, ihn abzuhärten. Vielleicht hat es ja auch gewirkt. Aber was ist mit dir, Aebbe? Was hat es mit dieser Prophezeiung auf sich?«
Und Aebbe erzählte ihm stockend und mit Cynewulfs Unterstützung Aelfrics Geschichte.
Der erste, auch fast neunzig Jahre später immer noch schockierende Überfall der Nordmänner auf Lindisfarena war Arngrim wohlbekannt. »Und diese Aelfric, deine Großmutter, war dabei ...«
»Meine Urgroßmutter«, verbesserte Aebbe. »Sie ist mit dem Leben davongekommen – und sie hatte das Menologium der Isolde, die Prophezeiung, im Kopf.«
»Das einzige Exemplar«, sagte Cynewulf traurig, »denn alle anderen haben die Nordmänner verbrannt oder gestohlen. Abschriften von Abschriften, liebevoll über Jahrhunderte hinweg bewahrt ...«
»Ja, ja«, sagte Arngrim unwirsch. »Woher weißt du dann davon, Priester?«
»Das kommt daher, dass ich lesen kann.« Cynewulf gestattete sich einen Anflug von Genugtuung. »Ein anderer Überlebender hat einen Bericht über diesen schrecklichen Angriff niedergeschrieben – und darin bin ich auf eine Erwähnung der Prophezeiung gestoßen. Ob sie nun das Werk Gottes oder des Teufels ist, sie scheint ein Körnchen Wahrheit zu enthalten, eine grobe Karte der Zukunft. Und ich wusste, dass ich versuchen musste, sie ausfindig zu machen.«
»Warum?«
»Weil – das glaube ich auf Grundlage meiner Lektüre – es in der sechsten Strophe um Alfred geht und um die große Kraftprobe mit den Dänen, die ihm bevorsteht.«
Der Maure auf dem Boden hörte offenkundig fasziniert zu. Aelfric war zu ihrer Familie nach Bebbanburh zurückgekehrt, hatte sich beizeiten einen Gatten genommen, den Sohn eines Thegn, und selber Kinder bekommen. Es hieß, sie habe ihr Haus mit Büchern gefüllt, eine Angewohnheit, die ihr Gemahl und ihre Kinder zeitlebens weder mit ihr teilten noch verstanden. Aber es gelang ihr nicht, die Narben auf ihrer Seele loszuwerden, die ihr die Geschehnisse auf Lindisfarena geschlagen hatten.
Und sie vergaß das Menologium nie. Die Schriftrolle hatte sie einer Wikinger-Plünderin überlassen müssen, aber sie hatte sich zuvor lange Monate hindurch im Skriptorium mit seinen Worten abgemüht. Im Lauf der Zeit förderte sie alles aus ihrem Gedächtnis zutage, Wort für Wort, Strophe für Strophe. Aber sie schrieb es niemals auf.
Als ihre eigene Tochter alt genug war, brachte sie ihr das ganze lange Gedicht bei: Sie musste es auswendig lernen, Wort für Wort. Und als diese Tochter ihrerseits Kinder hatte, vertraute sie den Text des Menologiums dem Gedächtnis ihrer eigenen jüngsten Tochter an.
»Aelfric hat das Menologium im Geist von Töchtern und Enkelinnen bewahrt«, erzählte Aebbe. »Männer, meinte sie, seien nur für Gemetzel und Plünderungen zu gebrauchen.«
»Da hatte sie wahrscheinlich recht«, grunzte Arngrim.
Cynewulf war es gelungen, Aelfrics Nachfahren bis in seine eigene Zeit und bis nach Mercien zu verfolgen; dorthin waren sie geflohen, als die dänische Streitmacht in Northumbrien wütete.
»Und darum hast du dich auf die Suche nach diesem Kind gemacht – Aebbe, die Urenkelin einer Frau, die sich als Mönch ausgegeben hat.« Der Gedanke brachte Arngrim zum Lachen. »Und mit dieser Geschichte willst du nun zum König.«
»Ich muss mit ihr zu ihm, mit Aebbe, denn sie will das Menologium selbst jetzt nicht niederschreiben. Aber ich glaube, dass ich Alfred diese Prophezeiung
überbringen muss. Nicht nur unser Leben steht auf dem Spiel – die ganze Zukunft Englands und unserer Kindeskinder könnte davon abhängen.«
»Ich bin neugierig«, sagte Ibn Zuhr plötzlich. »Herr ...«
Arngrim trank von seinem Bier und zuckte die Achseln. »Frag, was du willst.«
»Ihr bezeichnet diese eure Insel – den Teil, der euch gehört – als England.« Engla-lond . »Und euch selbst als Engländer.« Englisc .
Cynewulf zuckte die Achseln. »Ja und?«
»Ihr seid keine Engländer – oder zumindest nicht ihr alle. Die ›Engländer‹, die Angeln, sind nur einer der germanischen Volksstämme, die vor vielen hundert Jahren übers Meer gekommen sind.«
Arngrim knurrte: »Die Bedeutung des Wortes ›Engländer‹ hat sich ausgeweitet. Jetzt sind wir alle damit gemeint. Ich weiß nicht, warum; ich bin kein Gelehrter. Aber meiner Ansicht nach ist Beda dafür verantwortlich, dieser arbeitswütige Mönch, der sein Leben
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