Eroberer
wäre er Methusalems Zwillingsbruder.
Natürlich waren vierzig Jahre erheblich weniger als die in der Bibel versprochenen siebzig. Aber das Leben war schwer in diesen gefallenen Zeiten, und Körper nutzten sich ab, selbst die von Priestern. Insbesondere Cynewulfs Knie schmerzten beständig, zweifellos eine Nachwirkung der langen Stunden, die er jeden Tag auf ihnen verbracht hatte. Er hieß solche Leiden willkommen und weihte sie Gott.
Aber in gewissem Sinn war er verschont worden. Die meisten seiner Jugendfreunde hatten längst das Zeitliche gesegnet, und er kannte nur sehr wenige Menschen, die älter waren als er. Plötzlich merkte er, dass er in einer Welt voller jugendlicher Unschuldslämmer wie Saberht verloren war, die nichts von der dreißig, zwanzig oder auch nur zehn Jahre zurückliegenden grauen Vergangenheit wussten, von den Tagen von Aethelingaig und Ethandune, die nichts davon wussten und sich noch weniger dafür interessierten.
Saberht hatte ja nicht einmal Angst vor den Dänen. Für ihn war der Däne am Ende, eine Streitmacht, die von Alfred besiegt worden war und jetzt, in den späten Jahren des Königs, immer weiter zurückgetrieben wurde. Oh, der Däne klammerte sich noch im Nordosten fest, aber was gab es zu befürchten? So schnell wechselten
die Generationen, dachte Cynewulf, so schnell war die Vergangenheit vergessen.
Aber Cynewulf hatte nicht vergessen, und Alfred auch nicht.
Saberht hatte also keine Angst vor dem Dänen – aber vor Lunden war ihm seltsamerweise bange.
An diesem letzten Tag der Reise, als sie von Norden in Richtung Lunden ritten – durch Länder, die erst vor einem Jahr den Dänen abgenommen worden waren und nun unter Alfreds Herrschaft standen –, überquerten sie eine Anhöhe, und Lunden und sein Fluss breiteten sich vor ihnen aus. Cynewulf zügelte schwer atmend sein Pferd, und neben ihm wurde auch Saberht langsamer.
Der Fluss schlängelte sich träge durch ein breites Tal. Sein Wasser glänzte wie gehämmertes Eisen. Die römische Mauer war eine riesige Ellipse, die dicht am Nordufer entlangführte. Die Stadt war schon vor so langer Zeit verlassen worden, dass reife Eichen aus den Fundamenten zerstörter Amtsgebäude sprossen. Doch heute stieg Rauch von hundert Feuern auf, die innerhalb der Mauern brannten, und sammelte sich zu einer Dunstglocke. Jahrhundertlang hatten die Engländer Lundens uralte Mauern gemieden, aber heute war die alte Stadt nicht mehr leer.
»Jetzt schau«, befahl Cynewulf. »Welch ein großartiger Anblick. Und die historischen Schichten sind sogar von hier aus zu erkennen.«
»Ja, Pater«, murmelte Saberht teilnahmslos.
»Die Römer haben diesen Ort einst Londinium genannt.
Es war die Hauptstadt ihrer Provinz, eine der größten Städte des Westreichs. Jetzt gehört sie uns, und wir nennen sie Lundenburh.« Befestigtes Lunden.
Alfred hatte seine Burhs, die neuen Städte, über seine Hälfte eines Englands verstreut, das zwischen Wessex und den Dänen geteilt war. Die Burhs gründeten auf den Überresten römischer Städte oder älterer Hügelfestungen oder waren, wo nötig, neu errichtet worden, wie zum Beispiel Wealingaford. Die Straßen waren geplant, die Stadtmauern bestanden aus Stein oder Grassoden, und jedes Burh besaß eine Münze und einen Markt. Das ganze Land war wie nach einem grandiosen Plan gestaltet. Letztendlich würde kein Punkt in England mehr als zwanzig römische Meilen von einem Burh entfernt sein – und wenn die Nordmänner wiederkamen, würden sie ein Land voller Städte vorfinden, die sich wie Igel zusammengerollt hatten.
Cynewulf schloss die Augen und lächelte. »Der Wert der Geschichte – der Wert des Lesens, Novize. Einst hat Kaiser Konstantin angesichts der Barbarengefahr ein ähnlich tief gestaffeltes Verteidigungssystem entwickelt. Und jetzt machen wir es noch einmal.«
»Ja, Pater.«
Und von allen Burhs war keines großartiger als Lunden.
Cynewulf klopfte Saberht auf die Schulter. »Irgendwo dort unten hält der König jetzt gerade Hof. Da wollen wir hin.«
»Wir wollen dort hinein? Hinter diese Mauern?«
Saberht legte die Hand an die Kehle und murmelte etwas vor sich hin.
Cynewulf packte das Handgelenk des jungen Mannes und zog es rasch weg. Um den Hals trug Saberht ein kleines, aus Holz geschnitztes Kruzifix. Cynewulf wusste sofort, dass nicht das Christenkreuz Saberht tröstete, sondern das Holz als solches.
»Oh, Saberht«, sagte Cynewulf. »Ein hölzerner Zauber, um dich vor Städten aus
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