Eros und Asche
Landschaft und habe sie mit zwanzig wieder verlassen, die ersten Jahre hätten mich fast umgebracht. Alles war stärker als der Junge, der nur zwei weiße Hemden und eine Wäschenummer (41) hatte, um gegen die Welt anzutreten: die anderen im Zimmer waren es und die Tränen vor Heimweh, die Gerüche aus den Toiletten und die Wünsche, in dieser Dunkelheit meinen Platz und einen Freund zu finden. Und stärker waren auch die Erzieher und ein Winnetou-Kantor mit seinem Blick, desgleichen die Schule, der See und die Musik dieser Zeit – Tom Dooley , der hängen sollte, das war ich: ein Quartaner in Jeans legte den Strick um, und die Mädchen im Schottenrock schauten zu. Dann kam der Kantor, der auch mein Sport- und Religionslehrer war, des Nachts, und in der Freizeit spielte ich Tischtennis mit dem evangelischen Katechismus als Schläger, ein Fortschritt; und ich sang auch in Winnetous Chor Carmina Burana , und, wenn mich der Völkerball abgeschossen hatte, neben dem Sportplatz Schöner fremder Mann . Ich bewunderte die Großen, die jeden Ball fingen, ihre enge Kleidung, die festen Bewegungen, ihre Frisuren (den Rundschnitt, der eigentlich verboten war), und als ich später zu einem der Größten aufs Zimmer kam, war es ein einziges Zittern unter seinen Launen. Er flößte mir Rasierwasser ein, wann immer er eine Fünf geschrieben hatte, aber verbrannte auch ein einschlägiges Foto, das in meinem Besitz war, hinter seinem Rücken in der hohlen Hand, als der Heimleiter mit einer Schrankdurchsuchung begann; ihm folgte ein anderer, den ich schon aus dem Chor kannte, auch wir haben am Fenster geraucht (heute hustender Arzt in Berlin). Und ein Jahr später kam M. einen Stock tiefer mit Zigaretten und Feuerzeug in der Hand zur Tür herein. Und wieder ein Jahr danach, oder waren es zwei, da schwammen wir eines Tages über den breiteren der beiden Arme, die unter mir gerade verschwinden, in die Schweiz, eine Art Flucht, und von da an war es unser gemeinsamer See.
8
Morgens im Radio: Die Stones-Tournee muss verschoben werden, weil Keith Richard auf eine Palme geklettert ist, um sich eine Kokusnuss zu holen, ohne klettern zu können (Klettern auf Palmen, das tägliche Brot, die wahren Sätze hängen ja ganz oben und fallen nicht von allein, oder sie erschlagen einen). Umpacken des Venedig-Koffers für eine Kurzreise nach Lissabon auf Einladung des Goethe-Instituts. Mittags wieder am Flughafen, dort ein Telefonat mit meiner Schwester, die mit M. vierzehn Jahre zusammen war, mich ablösend, könnte man sagen. Die Trennung war ein Fliehen von M.s Seite (vor sich selbst, feige und wortlos), nicht lange danach traf sie ihren jetzigen Mann, und im vorletzten Moment kam ein Sohn zur Welt, Gegenstand unseres Gesprächs (er wurde in der Straßenbahn, Frankfurt/ Oder, zusammengeschlagen, die Anzeige hat man später zurückgezogen, einziger Weg, den Täter zu beruhigen. Den Eltern ist nicht wohl dabei, aber anders wäre allen noch unwohler; Kinder und Gradlinigkeit vertragen sich schwer). Ich erwähne das Schreiben über M., keine Vorwarnung, ein Akt des Anstands, auch der Geschwisternähe. Das Feld der Freundschaft und das der Liebe überschneiden sich zwar, aber vollzogene Liebe schafft ihren eigenen Zaun; alles, was dahinter war, geht mich nichts an, wir brauchen darüber nicht zu reden. Die Schwester wünscht mir eine schöne Reise – viel Freude in den Tagen, sagt sie, und ich höre ihr Anteilnehmen.
Und auch nichts anderes als Freude während der Fahrt im grünschwarzen Taxi durch die Vorstadt ins Zentrum, Freude, wieder in Lissabon zu sein, ich weiß nicht, zum wie vielten Mal seit dem ersten Besuch kurz nach der Nelkenrevolution. Die Stadt war damals, vierundsiebzig, ein großes Auffanglager, die Dritte Welt am Rande Europas, voller berechtigtem Fado und bröckelnden Fassaden, mit den Portweinschenken gegen die Verzweiflung und den hölzernen Zahnradgondeln als ernsthaftem Transportmittel. Eine erschöpfte und doch nicht endende Unruhe war in allen Straßen, wie die der sich wälzenden Fische vor der Mündung eines Abwasserrohrs am Anlegeplatz der Tejo-Fähren, im aufgewühlten Wasser das Funkeln der Bäuche, als sei dort etwas ganz anderes im Gange, erstmals erlebt an der Seite einer Reisebekanntschaft, deutsche Krankenschwester mit kurzem Haar. Sie war für zwei Tage meine Begleitung oder ich die ihre, wir waren in einem Hotel, das ich vom Taxi aus wiedererkenne, das Florida, am Anfang der Liberdade mit getönten Scheiben wie
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