Eros und Asche
dazu Muschelfleisch und frischer Koriander). Der Wirt hat den Gast erkannt, und der Gast wurde rot, als hätte man ihn bei etwas ertappt. Und später ein weiterer Gang durch das verwirrende Hügelviertel, das entwirrt werden soll, und ich verlaufe mich etwas in den auf- und abwärts führenden Gassen. Aber auf einmal ist da eine Treppe mit Geländer in der Mitte, oder besser gesagt, der vor Jahren geschriebene Text zu dieser Treppe, die Erinnerung an einzelne Sätze, die auch später Teil von Lesungen waren, und ich finde den Weg nach unten, wie bei einem Traum im Traum, wenn uns ein Wissen hilft, das nicht objektiv ist, aber wahr. In der Beco de Sa˜o Luis da Pena mit ihrer jäh auftauchenden Riesenpalme walten die Traummächte – nie begegnet man dort wem, meint jedoch immer, hinter jeder Biegung müsste ein kleiner alter Herr mit Hut und Schirm auftauchen, der traurige Fernando P., den sie so blöde als Denkmal vor das Brasileira gesetzt haben – ein Fressen für alle, die sich mit ihm fotografieren lassen, untergehakt wie bei einem Spaßvogel –, anstatt ihm in dieser Gasse eine Ecke zu widmen.
M. hatte mir schon von Pessoa erzählt, bevor der kleine alte Herr durch eine gute Übersetzung und schöne Ausgabe seines Livro do Desassossego ( Das Buch der Unruhe ) bei uns zu spätem Ruhm kam. Zwar hatte er damals, Mitte der Achtziger, noch nicht viel von Pessoa gelesen, aber das Wenige knallte er mir am richtigen Ort und im rechten Moment an den Kopf, nämlich in einer Autobahnraststätte zwischen Heilbronn und Ludwigsburg (Wunnenstein), an einem Heiligabend gegen halb fünf, es war schon dunkel. Er hatte nach längerer Pause, mehr als einem Jahr, im Haus meines Vaters, das in der Nähe lag, auf Verdacht angerufen und gefragt, ob ich in diese Raststätte käme, in der er schon saß, und ich ließ die Messe, zu der sich alle ein letztes oder vorletztes Mal aufgerafft hatten, Messe sein und fuhr auf die Autobahn und zu dem Treffpunkt (oder begab mich dorthin wie einer der Hirten zum Stall), während meine Schwester – ohne jeden Kontakt zu M. nach der Trennung, wir hatten einander wieder abgelöst – mit unserem Vater und seiner zweiten Frau in die Dorfkirche ging.
Und nicht weit vom elektrischen Weihnachtsbaum, in einer Sitznische der leeren Raststätte, saß er vor seinem schwarzen Kaffee, als ich hereinkam, und grinste, weil er mich aus dem Heiligabendfrieden geholt hatte, einem Frieden, mit dem er selbst nichts zu tun habe, wie er gleich sagte. Angeblich kam er gerade von zu Hause (Karlsruhe) und war in seinem roten Volvo unterwegs nach Amsterdam, nur trafen wir uns dafür auf der falschen Autobahnseite. Aber das kam nicht zur Sprache, denn er erzählte sofort von Pessoa, als sei er ihm kürzlich begegnet – ein alter Lissabonner Kaffeehausgänger mit runder Brille und Fliege, der unter verschiedenen Namen in den zwanziger und dreißiger Jahren die traurigsten Bücher geschrieben habe, sagte er, und in diese Raststätte mit dem Baum könnte sich seine Lieblingsfigur verirrt haben, der Hilfsbuchhalter Soares. Er wollte noch mehr sagen, aber bei dem Wort Hilfsbuchhalter kam sein ersticktes Lachen, als einziges Geräusch in dem Saal mit nur einer Bedienung, die zu uns herüber sah. M. beruhigte sich kaum, er stieß das Wort noch ein-, zweimal hervor und wechselte dann das Thema, als käme er anders nicht zu sich. Mit Zigarette im Mund holte er einen Umschlag aus seiner Jacke und entnahm ihm mehrere Fotos, die wie eine Einstimmung auf die freizügige Seite von Amsterdam waren, eher aber die Erinnerung daran, und ordnete sie zu einer Art Filmsequenz zwischen seinem Kaffee und meiner Cola. Er sagte nichts, er präsentierte nur zwei mädchenhafte Frauen in einem Bett, die eine blond, die andere eher dunkel, aber beide mit heller Haut, die von schwarzer Bettwäsche abstach; und jede mit der anderen rückhaltlos befasst, von den Füßen aufwärts. Acht oder neun Fotos lagen im Schein der elektrischen Kerzen auf dem Raststättentischtuch, und M.s einziger Kommentar galt der Mühe, die es gemacht habe, das Gezeigte so normal erscheinen zu lassen (träumerisch in meiner Erinnerung, zwischen Lust und Langeweile wie die Mädchen auf den Bildern von Balthus). Danach ließ er allerdings noch durchblicken, dass er die beiden heute Nacht, oder nachher, wie er sagte, in Amsterdam wohl wiedersehen werde, und drängte in dem Zusammenhang zum Aufbruch, auch damit ich die Bescherung nicht versäume. Ich zahlte die Getränke, und
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