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Eros und Asche

Eros und Asche

Titel: Eros und Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bodo Kirchhoff
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dem Mund, in den Augen den amüsiertesten und geringschätzigsten all seiner menschenunfreundlichen Blicke. Er hat mir von diesem Besuch erzählt, eher nebenbei, während einer Unterhaltung über die jüngsten Cocktailsitten in Berlins neuer Mitte, Sitten, die er grauenhaft fand, und ich sehe ihn da stehen, etwas abgesetzt von allen anderen am Tresen, mit seinem Lächeln in den Augen, weil der Freund in einer Gruppe festsitzt, aber immerhin Bier trinkt statt Prosecco mit Pfirsichsaft und irgendeiner geheimnisvollen Zutat, die ihn nur hätte den Rauch langsam ausblasen lassen, in Richtung aller, die solche Zutaten auch noch genießen.
    Nach ruhiger Nacht neben U. der Gedanke: wie unheimlich ein Foto wäre, das uns beide schlafend nebeneinander zeigt, unheimlich wie die Fotos entfernter Monde, die einander in einer Balance halten. Tagsüber Spaziergänge am Meer und Fahnenkorrektur; abends ein Essen im Hotel Cipriani. Zum Auftakt spielt der gefeierte Jungpianist S. drei Mozart-Sonaten, mit der vorausgeschickten Bitte, unterdessen die Antipasti einzunehmen; er hat schon die Illusion abgelegt, die Kunst komme vor dem Brot, auch wenn für das Brot gesorgt ist. Mit am Tisch Freund O. und seine Frau, einer von zwei, drei Freunden, die mir aus mehr als zwanzig Jahren im ersten Verlag meiner Wahl geblieben sind. Am späteren Abend hält der Impresario eine selbstironische Rede, und im Anschluss tritt der Publizist A. L. aufs Podium (den ich in Frankfurt gelegentlich beim Imbiss-Metzger treffe, wo er eine Rindswurst ebenso genießt wie die Speisen dieses Abends), jemand, der weder um sein Alter noch um sein Schicksal noch um seine Reputation viel Wind macht – ein Mann nach M.s Geschmack. Man erwartet eine Rede, aber der alte A. L. redet nicht, er singt. Völlig unerwartet (für U. und mich) singt er, a capella, Yeruschalayim schel sahaw , Goldenes Jerusalem, und alle Juden im Zelt stimmen nach und nach ein, stehend und klatschend, während uns Christen, die wir keine mehr sind, ein Gefühl des Abgehängtseins erfasst – und am Kai schon die Boote für die Überfahrt nach San Marco warten.
    Auf einem der wenigen Fotos, die M. und mich gemeinsam zeigen (keine zehn), sitzen wir im Inneren des Café Florian, in einem der Winkel, die bei allem Samt nichts Gutes verheißen, von Schaben bis zu verschlagenen Kellnern, ich mit dem Rücken zur Kamera, die sonstwer gehalten hat, er von vorn mit Blick nach unten, eine lockere Faust mit Zigarette zwischen Ringfinger und Mittelfinger vor dem Kinn. Es sieht aus, als würde er nachdenken, nur war es eher ein Träumen oder Nachhängen – und wer ihn ansprach in solchen Momenten, bekam ein böses Lächeln. Ein dreißig Jahre altes Foto, und die Winkel im Florian sind noch dieselben, ja, man meint auch, das caféeigene Orchester unter den Arkaden sei noch immer dasselbe und spielte seit damals unaufhörlich Wiener Blut und La Vie En Rose oder The Lady Is A Tramp – was der Impresario bestellt hat –, und My Way , was der Orchesterleiter wohl glaubte, einem Mann, der das ganze Café für seine Gäste kurz vor Mitternacht reservieren ließ, schuldig zu sein. Die Geburtstagsgesellschaft hat sich auf alle Tische im Freien verteilt, die Kellner eilen mit Champagner umher und bedienen auch – als sei Verschlagenheit erblich – Schaulustige, die der Prominententeil unter den Gästen angelockt hat wie das Licht die Motten. Und spätestens beim letzten Mitternachtsglockenschlag vom Campanile, als das Happy-Birthday ausbricht, hat der nun leider doch sechzigjährige Jubilar die Piazza San Marco wie zum Trost in seinen privaten Hinterhof verwandelt. Es gibt keinen mehr auf dem weiten Platz, einschließlich der neureichen Chinesen, der nicht irgendwie Anteil nimmt, ja, es finden sich sogar Wildfremde zum Händedruck ein. Und wünschen kann man dem Impresario, der sich hier selbst auf die imposanteste aller Bühnen gebracht hat, nur, dass er nie von dieser Stunde zehren muss, auch und vor allem nicht in seiner letzten – Gedanke, der sich gleichsam von der Seite in das Bild dieser Gratulationskur drängt.
    Und M.s letzte Stunde, blieb da überhaupt eine Gelegenheit, von etwas zu zehren? Seitens der Gefährtin am Telefon dazu nur wenige Worte. Demnach hatte er vor seiner letzten Stunde, die nur aus Minuten bestand, mittags noch einmal geschlafen, in einer gemieteten Waldhütte unweit seines versteckten Sees (mit einem Namen, der nichts zur Sache tut), und war dann aufgestanden, um vor der Hütte

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